Die Ankömmlinge des Frühsommers 5

In seiner Fotoserie Die Ankömmlinge des Frühsommers porträtiert der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil die weißen Blütenstände des Holunders, die aus dem dichten, saftigen Grün der Blätter wie aufgefächerte Korbgaben emporragen. Den Bestand der winzigen Blüten fassen sie derart zu breitflächigen, raumbildenden Gebilden zusammen. Von weitem betrachtet, ergeben diese Epiphanien ein domestiziertes Strauchleuchten. Aus der Nähe besehen, wirken die dem Licht entgegentretenden Blütenkörbe jedoch wie singuläre Erscheinungen, die mit anderen, benachbarten um den Schönheitspreis konkurrieren.

Fermers Wanderungen 16

Die weiten Wiesen waren jetzt, Ende Mai, längst gemäht, und die schmalen, sonst unsichtbaren Wege erschienen in einem stärkeren Grün – als Abdruck der Spuren, die von den Traktoren in den letzten Jahren hinterlassen worden waren. So wirkte der sanft, zu einer Höhe hin ansteigende Hügel nicht wie gemäht, sondern wie (mit Spuren eines Scheitels) gekämmt. Am liebsten hätte er seine Hand ausgestreckt, um den Erdkopf entlang zu fahren, dann aber folgte er den Spuren und ließ sich von ihnen kilometerweit begleiten und rahmen.

Philip Roth

Gestern sah ich (auf Arte, noch bis zum 2. Juni in der Mediathek) einen Dokumentarfilm von William Karel (aus dem Jahr 2011) über Philip Roth, der am 22. Mai im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Es ist ein guter Film, der sich völlig auf den Schriftsteller und seine Erinnerungen konzentriert und ohne jedes Drumherum auskommt. Man sieht also vor allem Roth selbst, gescheit, pointiert und selbstironisch erzählend. So berichtet er von den Anfängen seines Schreibens, den ersten Erfolgen und wie er sich sein Leben lang durch die Arbeit am Text gebunden fühlte. Nichts Schöneres als das Schreiben – und nichts, was ihn von Tag zu Tag mehr beansprucht. Mit den Jahren macht es aus ihm einen völlig auf die nächste Geschichte und das nächste Buch ausgerichteten Menschen, der das sonstige Leben als Begleitkulisse versteht. Kurze Seitenblicke gelten vor allem der Arbeit seiner geschätzten Kollegen (Bellow, Malamud, Hemingway, Faulkner). Als käme es darauf an, vor allem in diesem kleinen Kreis zu bestehen und sich danach auch im Alter noch zu behaupten. In den letzten Jahren hat Roth nicht mehr geschrieben, sondern die, wie er sagte, „großen Texte“ der Weltliteratur noch einmal in Ruhe gelesen. Um sich selbst einzuordnen und zu vergleichen? Nein, eher, um die Großen aus der Emphase gereiften Lesens heraus noch einmal zu ehren. Was für ein nobler (und für Roth sehr charakteristischer) Gedanke! Und was für ein beeindruckender, großherziger Schriftsteller!

„Unfassbar“

Gestern in Mainz, 22.40 Uhr. In der Stadt der winzermäßig kultivierten Lebensfreude und des ZDF-Humors gehen die Ampeln mit den deutschlandweit geliebten Mainzelmännchen aus. Tiefe Trauer legt sich über die Region der vielen Fans, die Trainer Kloppo die Daumen gedrückt und mit ihm gefiebert haben. Ausgerechnet Loris Karius, ehemaliger Torwart des FSV Mainz 05, hat ihn und die Mannschaft des FC Liverpool im Finale der Champions League durch zwei schwere Aussetzer um den verdienten Sieg gebracht.

„Unfassbar. Du hättest ihn (Karius) in Mainz erleben müssen“, schreibt ein Mainzer Freund und 05-Fan, „phantastischer Torwart. Absolut zuverlässig. Eigentlich längst ein Kandidat für die Nationalmannschaft. Gleich beginnen die Vorbereitungen für den Bittgottesdienst. Wir werden für Loris beten …“

 

Annie Ernaux

Lange habe ich kein so kluges Buch der Erinnerungen gelesen wie Die Jahre von Annie Ernaux. Die französische Schriftstellerin wurde 1940 geboren und ist in Frankreich dank eines umfangreichen Werks sehr bekannt. Hier in Deutschland ist das noch anders, nur wenige ihrer Werke sind in Übersetzungen erschienen. Die Jahre (in der Bibliothek Suhrkamp 2017, übersetzt von Sonja Finck) hat jedoch in der Kritik viel Aufsehen erregt, und das sehr zurecht.

Annie Ernaux erinnert sich an die prägenden Szenen ihres Lebens und folgt diesen Bildern kontinuierlich. Den Unterschied zu üblichen Autobiographien markiert aber schon die Erzählform in der dritten Person. Die Autorin sieht sich von außen, als eine „Sie“, die Teil viel größerer als nur privater Bewegungen ist. Die „Sie“ agiert daher in den verschiedensten sozialen Rollen: als Mädchen, als Frau, als Studentin, als Liebende – jede dieser Prägungen hat eine intime und zugleich eine kollektive Seite. Die intime ist erzählte Charakteristik des Individuellen, die kollektive erscheint in den Formen des „man“, indem der Blick sich zu den „anderen“ hinwendet: Was tun sie gerade bevorzugt, was essen, trinken, denken sie? Worüber wird gesprochen? Wo treffen sie sich vor allem? So hat die „Sie“ ihre Auftritte in den Galerien des Zeitgeistes und ihrer Strömungen, die bis in jeden Winkel verfolgt werden.

Die Lektüreerfahrung ist stark: Denn schon auf den ersten Seiten geht man als Leser, der viele dieser Zeiträume selbst erlebt hat, ebenfalls auf Distanz zu sich selbst. Ernaux‘ Text löst ähnliche, aber dann doch anders akzentuierte Erinnerungen aus – und „man“ begibt sich auf eine lange Zeitreise: Hin und her schwankend zwischen all dem, was (gleichsam) die inneren privaten Fotoalben enthalten und jenen Bildern, auf denen man ausschließlich in Gruppen, Kreisen, Zirkeln erschien. Dieses Wider- und Gegenspiel macht „ein Leben“ aus, und Annie Ernaux ist eine der ganz wenigen Schriftstellerinnen, die genau dieses Kräfteverhältnis in selbstkritischem Sinn nicht nur beschreibt, sondern glänzend erforscht.

Auf der Jagd (Mein Freund Norbert berichtet)

Da ich meinen Bruder früher einmal auf der Jagd begleitet habe, hat mich der Film interessiert. Auf der Jagd heißt er, und es ist ein Dokumentarfilm der Dokumentarfilmerin Alice Agneskirchner, die recht bekannt ist und schon viele Auszeichnungen erhalten hat. Er lief abends als Sondervorstellung in einem eher kleinen Kino auf dem Land.

Ich fuhr also hin und traf im Foyer des Kinos auf lauter Männer in mittlerem Alter, die dort rumstanden und fast schweigend auf Einlass warteten. Ich fragte die Verkäuferin, was los sei, und sie antwortete, es seien lauter Jäger oder Pächter von Jagdrevieren. Das Kino war daraufhin proppenvoll, und es saßen fast nur Männer darin, richtige Kerls, groß, breit. Die Kinobesitzer ließen die Werbung weg und brachten stattdessen ein paar kurze Vorschauen, als könnte man die blöde Werbung Jägern oder Pächtern von Jagdrevieren nicht zumuten.

Dann begann der Jagdfilm, und es gab fast eine Viertelstunde nur lauter eher einsame Tiere (darunter auch Wölfe) in einsamen Landschaften bei Zurschaustellung ihres Naturerlebens zu sehen. Man sah den Rehen, Hirschen und Sauen richtig an, wie wohl sie sich fühlten: sie bekamen ja zu fressen, was immer sie wollten, sie bewegten sich uneingeschränkt, es ging ihnen gut.

Nach der stillen ersten Viertelstunde begannen die Fragen: Dürfen die Tiere das? Stören sie nicht? Machen sie nicht zu viel Mist? Soll man sie in bestimmten Quartieren unterbringen und dafür sorgen, dass sie die nicht verlassen? Wie viele Rehe, Hirschen und Saue werden in Deutschland im Jahr abgeschossen? (Es sind unglaublich viele.) Was sagt eine Wildbiologin dazu? Was ein Forstverwalter? Was ein Berufsjäger? Die Gespräche mit diesen Leuten jeweils vor Ort in den Wäldern waren interessant und informativ – und genau das war der ganze Film. Ein perfektes Angebot auch für Schulklassen oder einseitig Informierte oder auch Volkshochschulen, deren Mitglieder sich anhand der vielen Einlassungen zu den Themen Wald, Tier, Jagd selbst ein Bild machen wollen.

Das Interessanteste aber waren die Momente, in denen ein Jäger live von seinem Hochsitz aus zum Beispiel auf ein Reh anlegte. „Tu’s nicht“, hätte ich am liebsten gestört, aber der Typ nahm sich Zeit, lies die Zunge über die Lippen kreisen und gab den Schuss ab. Das Tier brach sofort zusammen, das war fast nicht zum Ansehen. Erst war das Kitz dran und danach auch noch das Muttertier. Beide abgeschossen, waidmännisch, wie es so heißt. Ich spürte, wie all die vielen Jäger im Saal bei diesen Schüssen die Luft anhielten. Sie witterten und zitterten richtig, nicht mit den Tieren, sondern mit dem Typ. Der Jagdtrieb oder die Jagdlust samt Jagdinstinkt breiteten sich schlagartig und geruchsintensiv aus, bis schließlich die Jagdhörner geblasen und die zur Strecke gebrachten Tiere abgefahren wurden. Meine Herren, das waren ganz am Ende Bilder, die stark unter die Haut gingen. Waidmannsheil?! Waidmannsdank?! Ich wurde die Bilder lange nicht los und musste allen Freunden, die den Film nicht gesehen hatten, lange davon erzählen …

Die Ankömmlinge des Frühsommers 4

In seiner Fotoserie Die Ankömmlinge des Frühsommers porträtiert der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil die Wegrandfluchten der Weißen Schafgarbe, die in diesen späten Maitagen über das geduckte Grün einen auf und ab wogenden Schaum ausbreiten. Die einzelnen Blüten verharren dabei in kleinen Dolden und lassen sich von ihnen hin und her schaukeln, ohne dass die auf den ersten Blick schwachen Stängel brechen. Sie erscheinen bei genauer Betrachtung vielmehr immens elastisch und schwingen die Dolden bei eintretendem Übermut mitten im starken Wind, als läuteten sie kleine Glocken, die einen feinen, polyphonen Gesang verbreiten.

Max Frischs Notizhefte

Im Max Frisch-Archiv an der ETH-Bibliothek Zürich (Rämistraße 101) ist vor wenigen Tagen eine Ausstellung mit den Notizheften von Max Frisch eröffnet worden. Frisch war bekanntlich einer der großen Tagebuchschreiber des letzten Jahrhunderts, ja, man kann sogar behaupten, dass große Teile seines Erzählwerks vor allem aus Tagebuch-Konstruktionen entstanden sind. Primär ist jedenfalls die Methode der Selbstbefragung, die oft ins noch schärfere Selbstverhör übergeht. Romane wie Stiller, Mein Name sei Gantenbein oder (ganz dezidiert) Montauk kreisen um solche tagebuchartige Beichten der zentralen Figuren.

Andererseits haben Frischs veröffentlichte Tagebücher aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg (Tagebuch 1946-1949) oder aus den sechziger Jahren (Tagebuch 1966-1971) wiederum romanhafte Züge und sind keineswegs krude Mitschriften der laufenden Ereignisse. Solche Mitschriften finden sich vielmehr in den sogenannten Notizheften, aus denen bisher nur wenige Passagen veröffentlicht wurden.

Im Max Frisch-Archiv werden über hundert solcher Notizhefte aufbewahrt. Über das Arbeitsverfahren an diesen „Tagebuchblättern“ hat Frisch selbst Genaues gesagt: „Tagebuchblätter“, schreibt er 1949, „sind Erzeugnisse in den Pausen, Notizen unterwegs, Einfälle in einem Wartezimmer, im Kaffeehaus, in der Bahn oder am Feierabend, bevor man das Licht löscht; es sind, ihrer Adresse nach, immer Notizen an den Schreiber selbst, Briefe ohne Empfänger; ihr Reiz, ihr wesentlicher Reiz ist das Selbstgespräch, die Aussage ohne Stimme, der Umgang eines Geistes mit sich selbst.“

Die Notizhefte bilden also den noch unbearbeiteten Rohstoff der späteren literarischen Arbeit. Ihre Texte, ihre Anlage und ihre Ästhetik zu verfolgen, ist daher hoch interessant für alle, die an der Arbeit in literarischen Werkstätten interessiert sind. Bis zum 28. September haben sie Zeit, sich die Hefte in Zürich anzuschauen und wenig später (etwa im Restaurant/Café La Terrasse, Limmatquai 3) Tagebuchtexte zu lesen, die Frisch in genau diesem Café vor vielen Jahrzehnten geschrieben hat.

Pfingsten 2

Dreimal kommen die Jünger Jesu in einem bestimmten Haus Jerusalems zusammen. Beim ersten Mal (Gründonnerstag) essen sie mit Jesus (kurz vor seiner Kreuzigung) das Abendmahl. Beim zweiten Mal essen sie wiederum mit Jesus (nach seiner Kreuzigung und „Auferstehung“) und verabschieden sich von ihm, bevor er „in den Himmel auffährt“ (Christi Himmelfahrt). Beim dritten Mal sind sie allein, unter sich, Jesus fehlt. Das ist der Tag (Pfingsten), an dem er sich nicht unmittelbar mittteilt, sondern auf indirekte Weise zu ihnen spricht.

Die Apostelgeschichte erzählt dieses Ereignis als „Pfingstwunder“: Vom Himmel sei ein gewaltiger Sturm und ein Brausen gekommen und habe das ganze Haus erfüllt. Und es seien brennende Zungen erschienen, die sich auf jeden einzelnen Jünger gesetzt hätten, worauf sie begonnen hätten, in Sprachen zu predigen, die ihnen zuvor noch fremd gewesen seien.

Das „indirekte Sprechen“ Jesu hat eine Geschichte, die in die Jahrhunderte vor seinem Leben zurückreicht. Denn bereits in der griechischen Antike teilen sich die Götter nie direkt den Sängern mit, die darauf von ihnen erzählen und künden. Stattdessen gibt es immer starke Vermittler, wie zum Beispiel die Musen, die vieles, was die Götter mitteilen, den Menschen übersetzen und „eingeben“.

Götter- und Gottessprache ereignet sich über „Inspirationen“ für Sängerinnen und Sänger, die solche Inspirationen in große Literatur (Gedichte, Epen, Dramen) umbilden. Die „brennenden Zungen“ sind Bilder für solche heißen „Inspirationsströme“, sie versetzen die Jünger in die Lage, etwas zu beherrschen, was ihnen zuvor noch fremd war: Von einem Moment auf den andern sprechen sie „in fremden Sprachen“.

Die Apostelgeschichte erzählt davon, wie das Pfingstwunder die Menschen Jerusalems darüber in Erstaunen versetzte. Dabei ist nicht nur von jenen die Rede, die dort geboren sind, sondern besonders von jenen, die dort gerade leben oder die Stadt besuchen: Parther, Meder, Menschen aus Ägypten und Libyen, Kreter, Araber und viele andere. Das ganze östliche Mittelmeer scheint in Jerusalem versammelt, um den Sätzen des neuen Glaubens zu lauschen. In diesen Osten wird sich der Glaube nun ausbreiten, und die zuvor noch so sesshaften Apostel werden sich in Prediger und Missionare verwandeln.

„Pfingsten“ ist die Geburtsstunde der „inspirierten“ (heute sagen wir: „kreativen“) christlichen Rede von Gott. Eloquent, auf der Höhe der antiken Rhetorik, wort- und bildermächtig, das Abenteuer einer Sprache, die sich der Fremde annimmt, um sie neu zu erschließen.