Die Fremdheit der USA

Nach dem Rückzug von Joe Biden aus dem Kampf um das Präsidentenamt fällt mir bei Gesprächen mit meinen Freunden auf, wie wenig wir für gewöhnlich von den USA wissen und wie fern und fremd die Meldungen von den politischen Gegebenheiten oft wirken. In Windeseile wird aus einer angeblich farblosen Vizepräsidentin eine siegesgewiss lachende Kandidatin gezaubert, die den aufs Altenteil verwiesenen Präsidenten doppelt alt aussehen lässt.

Dass sie in nur wenigen Tagen zig Millionen Spendengelder für die Unterstützung ihrer Kandidatur gesammelt hat, irritiert, wirkt es doch so, als entscheide sich die Präsidentenwahl vor allem durch die Unmengen an Geldern, die für Werbung und Gott weiß was ausgegeben und in die Welt gestreut werden. Wer diese Gelder zuschießt und ins Rennen wirft, erfahren wir meist nicht und haben daher auch keinen Eindruck davon, um welche Machtkämpfe es in den Lagern der Lobbyisten momentan geht.

In dem riesigen Land kämpfen nur zwei große Parteien um die Wählerinnen- und Wählergunst. Von den politischen Trends und Strömungen in diesen Parteien bekommt man hierzulande kaum etwas mit, sie bleiben ebenso im Hintergrund wie die Namen von Senatorinnen und Senatoren oder die der Entscheidungsträger im Repräsentantenhaus. Was wir stattdessen aber laufend mitbekommen, sind die kleinen Dramen gesundheitlicher Diagnostik oder die offensichtlichen Verrücktheiten eines Kandidaten, der alles tut, um die sozialen Medien Tag für Tag mit Abfall aus seinem Schreckenskabinett zu füttern.

Überhaupt wirkt die Berichterstattung über die USA oft so, als ginge es vor allem um die Reize dieser oder jener Performance, orientiert daran, welche Drehbücher sich daraus für die Zukunft filtern lassen. Wer hat gelacht oder geweint, wer bedient jene „emotionalen“ Wirkungen, nach denen jetzt auf allen Kanälen fieberhaft gefahndet wird. „Emotional“ ist das aktuelle Stichwort der Saison, das dem gelangweilten Publikum eine Herzspritze verpassen soll. Emotional ist ein Abgang vom Amt, emotional ist aber auch ein Abschied vom Tennissport, Hauptsache die Meldung enthält ein paar rührende Komponenten, die zumindest einen halben Tag in Erinnerung bleiben.

Die ernsthafteren, über die Zukunft entscheidenden politischen und sozialen Themen gehen dadurch oft unter. Wie steht es zum Beispiel um die für den 5. November angesetzten, wegweisenden Wahlen? Dass die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger den Präsidenten nicht direkt wählen, sondern Wahlmänner bestimmen, erstaunt viele meiner Freunde. Die Regelung erscheint wie ein Rest althergebrachten aristokratischen Misstrauens gegen die Demokratie, als könnte man es dem Volk nicht überlassen, die für passend Gehaltenen selbständig und selbstbewusst zu wählen.

Dass die Wahlwilligen sich außerdem für die Wahl registrieren lassen müssen und das notwendige Prozedere in den fünfzig Bundesstaaten nicht überall dasselbe ist, lässt ebenfalls aufhorchen. Es soll sogar Bundesstaaten geben, in denen nur Briefwahl möglich ist. Die üblicherweise niedrige Wahlbeteiligung erklärt sich wohl auch durch solche merkwürdigen Hürden.

Im Vordergrund des öffentlichen Interesses könnte neben dem Kennenlernen dieser Eigentümlichkeiten auch ein tiefergehendes Interesse daran stehen, dass mit der möglichen Wahl von Kamala Harris zur Präsidentin nicht nur ein Generationenwechsel, sondern auch eine Umschichtung der relevanten Zukunftsthemen verbunden wäre. Die Erleichterung, die viele meiner Freunde spürten, als sie diese Chance witterten, war unverkennbar.

Statt des egomanen Trump-Trubels könnten Themen wie Emigration, Rechte der Frauen, Bekämpfung der Armut, Klimaschutz, Sicherheit und Verteidigung oder soziale Gerechtigkeit endlich wieder nach vorne rücken. Darauf nicht nur kluge und differenzierte Antworten zu geben, trauen meine Freunde der weltoffenen Kamala Harris zu. Das könnte mit einem neuen Politikstil verbunden sein: Statt der Abgabe von Erklärungen aus dem Orkus der Hinterzimmer eine lebendige und demokratische Diskussion von Programmen und der Überzeugungskraft ihres Für und Wider.

Das Sommerinterview 4 – Was gerade passiert

 

Hanna: Nun haben wir die Bombe platzen lassen und verraten, dass Dein lange geplantes Buch über das Literarische und Kreative Schreiben im November erscheint! Du hast in kleinen Kreisen oft davon gesprochen, es hat Dich sehr beschäftigt. In die Details sollten wir aber erst gehen, wenn das Buch im Handel ist. Momentan ist es in der Herstellung, richtig?

 HJO: Ja, das Manuskript wird gerade gesetzt, ich erhalte in den nächsten Tagen die Druckfahnen. Der Verlag wird sie dann an mögliche Veranstalter von Lesungen verschicken, es gibt bereits recht viele Anfragen. Die Veranstaltungen sollen in diesem Fall moderiert werden, das heißt, ich möchte mich mit klugen Experten, die vom Thema etwas verstehen, über das Buch und seine innovativen Akzente unterhalten. Die Druckfahnen gehen außerdem auch an mögliche Rezensentinnen und Rezensenten.

Hanna: Das sind Aspekte und Themen, von denen die Leserinnen und Leser leider nur wenig mitbekommen. Wie entsteht ein Buch? Wer trägt alles etwas dazu bei? In welchen Schritten kommt es an die Öffentlichkeit? Kaum jemand spricht davon oder hat ein Interesse, die geheimen Mechanismen hinter dem Erscheinen eines Buches zu beleuchten. Dabei sind doch viele Menschen genau damit beschäftigt, in den Verlagen, in der Presse, in den Buchhandlungen. Darüber etwas zu erfahren und davon zu wissen, fand ich immer sehr interessant.

 HJO: Dann lass uns doch weiter skizzieren, was gerade alles passiert. Im Verlag ist die Herstellungsabteilung jetzt mit dem Hildesheim-Buch beschäftigt, außerdem natürlich die Marketing-Abteilung und die Abteilung, die Veranstaltungen plant und organisiert. Für jede Veranstaltung wird ein Vertrag geschlossen. Die Buchhandlungen haben Vorschauen für die neuen Herbsttitel erhalten und können überlegen, welche Titel sie bestellen und welche sie in Lesungen präsentieren.

Hanna: Können wir den Leserinnen und Lesern Deines Blogs Bücher empfehlen, die von all diesen Prozessen berichten oder erzählen?

 HJO: Ich empfehle Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen (Rowohlt Verlag), das allerdings schon etwas älter und 2005 erschienen ist. In 120 Artikeln berichten viele Expertinnen und Experten über die Details, von A (Absatz/AIDA-Formel) über L (Lektorat/Lesen) bis Z (Zielgruppe/Zwischenbuchhandel). Das sind 400 mit Informationen vollgepackte Seiten!

Hanna: Und vielleicht noch einen neueren Titel?

 HJO: Gerade ist Das Buch zum Buch. Ein Blick hinter die Kulissen von Rainer Moritz erschienen. Moritz ist ein absoluter Solitär und einer der originellsten Experten, der fast alle Bereiche des literarischen Lebens aus eigener Anschauung kennt. Heute ist er Leiter des Literaturhauses in Hamburg, früher war er Cheflektor und Programmgeschäftsführer, er ist aber auch Literaturkritiker, Übersetzer (aus dem Französischen), Kolumnist und Schriftsteller, der vielgelesene Sachbücher über Fußball, Paris und Schlager, aber auch Romane geschrieben hat.

Die Artikel seines Buches sind ebenfalls alphabetisch geordnet, es beginnt mit Adventure Writing und führt über Leseglück bis zum Zwiebelfisch. Hier geht es nicht primär um Informationen, sondern um das Leben als Mitspieler in einem Betrieb, von dem Moritz mit viel Ironie und einer ungehemmten Passion Teilhabe elegant erzählt. Dadurch entsteht in der Tat ein Blick hinter die Kulissen, und man merkt dem Autor in jeder Zeile an, dass er lange in Paris gelebt hat. Daher erfährt man auch pikante Details, an die man selbst nie gedacht hätte.

Hanna: Zum Beispiel?

 HJO: Unter dem Schlagwort Essen & Trinken liest man zum Beispiel etwas über die vielleicht kalorien- und alkoholreichsten Werke der Gegenwartsliteratur (S. 84). Es geht dort unter anderem um einen auch von mir geschätzten Roman, in dem sich ein Münchener Journalist in eine italienische Kunsthistorikerin (sic!) verliebt. Hier irrt allerdings der beredte Autor Moritz, es handelt sich nicht um eine Kunsthistorikerin, sondern um eine Meeresbiologin und Leiterin eines meereskundlichen Museums. Der Irrtum sei ihm jedoch verziehen, zumal er die leuchtenden Szenen des Romans leidenschaftlich beschwört: „Da breiten sich glänzende Feigen in Obstschalen aus, da werden Austern geschlürft, begleitet von Unmengen Weißwein, da ordern die hochgradig Verliebten hochkonzentrierte Fischsuppen …“

Hanna: Ich habe den Roman auch mehrmals gelesen, diese wunderbaren und hochsinnlichen Szenen bekommt man nicht mehr aus dem Kopf. Die Austern erscheinen wie Lebewesen und sind die nahrhaften Quellen des Erotismus. Das sind wahrhaftig französisch inspirierte Exerzitien. Leider mag ich Austern nicht besonders.

HJO: Man sollte sie zu zweit essen, zum Beispiel im Fischrestaurant der Stuttgarter Markthalle, das Du kennst. Zu zweit, und dazu sollte man ein Glas gut gekühlten Chablis trinken. Es ist eine Tiefenreise ans Meer.

Hanna: Ich glaube Dir, Du hast oft genug davon geschwärmt. Und ich kann behaupten, dass ich immerhin auf dem Weg zur Austernkosterin bin. Ich habe nämlich in einem Buch über das Leben und Sterben der Austern gelesen, dass die Auster „eine poetische und zugleich existentialistische Speise“ und dass ihr Verzehr aus guten Gründen ein heiliger Moment sei.

HJO: Wer hat das geschrieben?

Hanna: Andreas Ammer in seinem Buch „Austern“, das in der „Naturkunden“-Reihe von Matthes & Seitz erschienen ist. Da Du es mir sowieso bald aus den Händen reißen wirst, schenke ich es Dir und freue mich auf die nächsten Schritte hin zur Austernesserin. 

HJO: Danke! Das sind doch wunderbare Vorsätze! Lass uns den Rundflug zum „Stand der Dinge“ hier beenden und in die verdiente Sommerpause gehen! Der nächste Blogeintrag wird nach dieser Pause am 6. August 2024 erscheinen. So haben die Leserinnen und Leser ebenfalls etwas Zeit, kurz oder lang auf unser Gespräch zu reagieren.

Hanna: Stimmt, wir geben die Hoffnung nicht auf! Eine entspannte Zeit wünsche ich Dir!

Das Sommerinterview 3 – Die Tetralogie der Nähe

 

Hanna: Guten Morgen, machen wir weiter! Du hast Dein öffentliches Schreiben zuletzt um Instagram-Posts erweitert. Die Blogeinträge sind etwas anderes, die setzt Du auch fort. Wie lange noch? Hast Du darüber nachgedacht?

 HJO: Vorerst bis zum zweitausendsten Eintrag. Dann überlege ich grundsätzlich, ob ich weitermache oder ob man den Modus ändert. Viele Freunde schlagen zum Beispiel vor, eine Paywall zu installieren. Dann müssen die Nutzer regelmäßig einen kleinen Beitrag zahlen, wenn sie den Blog weiter lesen wollen.

Hanna: Finde ich nicht so gut, ich bin für freiwillige Zahlungen! Die laufenden Kosten für den Blog sind recht hoch, das weiß ich, aber man sollte sie nicht auf die Leserinnen und Leser abwälzen. Zwang ist immer schlecht.

 HJO: Begegnet aber vielleicht dem Übel des gesichtslosen, stummen Dauerlesens ohne jede Reaktion.

Hanna: Daran hast Du Dich doch längst gewöhnt. Wie auch immer, denke bitte nochmal drüber nach. Machen wir mit Deinen Büchern und dem Lebensprogramm des „Kosmos der Schrift“ weiter.

Alle Deine Bücher ergeben nach und nach ein weites Panorama, sie gehören eng zusammen, jedes entwirft und fixiert bestimmte Momente und Zeiten Deines Lebens. Wenn man das nicht erkennt und weiß, weiß man im Grunde nur wenig über Dein Schreiben. Man stolpert höchstens von Buch zu Buch. Alle Rezensenten tun das übrigens, ich kenne niemanden, der das Kosmos-Projekt je erwähnt oder gar gedeutet hätte.

 HJO: Stimmt, ich kenne auch niemanden. Zwei Literaturwissenschaftler bereiten zurzeit ein Buch der „edition text-kritik“ über meine Bücher vor, vielleicht liest man dort zum ersten Mal etwas darüber. Es soll 2026 erscheinen.

 Hanna:  Und was wirst Du selbst als nächstes veröffentlichen?

 HJO: Gehen wir kurz etwas zurück. Das Jahr 2019 war für mich ein sehr einschneidendes, prägendes Jahr. Ich habe eine Herzoperation überstanden, die mich fast das Leben gekostet hätte. Danach habe ich wieder klein angefangen. Ich habe mehrere Bücher über meine nächsten Dinge und Lebenszeichen geschrieben, angefangen mit dem Buch In meinen Gärten und Wäldern, das ich übrigens besonders mag. Es ist ein Buch der lebenserhaltenden Zuwendung, mit kurzen, pointierten Texten über Blumen, Sträucher, Bäume.

Danach habe ich in einem, wie man so sagt, autofiktionalen Roman (Ombra) von der Herzoperation mit all ihren Seitenwegen und Themen erzählt. Dieses Buch musste ich schreiben, schon allein deshalb, um mich von vielen dunklen Gedanken zu lösen oder gar zu befreien.

Hanna: Ist so etwas möglich? Befreit das Schreiben?

HJO: Nicht wirklich, aber zumindest vermittelt es die Illusion einer Befreiung. Es verschafft Luft, um an etwas Neues zu denken. Es wirkt befreiend, könnte man altklug sagen. Befreiend, ohne zu befreien.

Hanna: Ich möchte das nicht mir Dir vertiefen, das fällt mir schwer. Gehen wir lieber ein paar befreiende Schritte weiter.

HJO: Man könnte die Fortsetzung meines Schreibens fast als eine eigene Geschichte erzählen. Denn nach Ombra habe ich von den mir nächsten Bereichen meines Lebens erzählt, indem ich mich an eine Poetik der Nähe hielt. Charaktere in meiner Nähe, Kunstmomente und Von nahen Dingen und Menschen sind die Titel der Bücher, die das versuchen.

Hanna: Auch über diese sehr offensichtlichen Zusammenhänge habe ich nirgends etwas gelesen. In keiner Rezension, einfach nirgends. 

HJO: Es ist das alte Lied. Die Kritik starrt nur auf das einzelne Werk.

Hanna: Ich weiß, dass Du in den letzten vier Jahren ein großes Buch geschrieben hast. Wollen wir davon sprechen und verraten, um was es geht?

HJO: Ja, ich habe die Arbeit an diesem neuen Buch vor kurzem beendet. Es ist kein Roman, sondern die Darstellung meiner über dreißigjährigen Lehre in den Bereichen des Literarischen und Kreativen Schreibens an der Universität Hildesheim. Das neue Buch wird Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren heißen und im November 2024 im Insel-Verlag erscheinen. Darin habe ich alles festgehalten, was ich zum Lernen und Lehren zu sagen habe. Es ist ein umfassendes Buch geworden, ich bin stolz auf dieses Buch und fast gerührt, wenn ich an die lange Arbeit denke – sage ich jetzt mal. Hoppla. Sorry.

Hanna: Lass uns eine Pause machen. 

https://www.suhrkamp.de/buch/hanns-josef-ortheil-nach-allen-regeln-der-kunst-t-9783458644224

Das Sommerinterview 2 – Instagram

Hanna: Guten Morgen, setzen wir unser Interview fort! Neuerdings bewegst Du Dich auf Instagram! Das hat mich verblüfft! Lange Zeit hast Du Dich gegen das Agieren in den sozialen Medien gesträubt und Dich als bekennender Blogger bezeichnet. Was ist da passiert?

HJO: Tja, plötzlich entstand die Lust, auch ein Medium wie Instagram für eine Testphase zu nutzen. Die stärkste Anregung ging wohl von dem Buch der Tage aus, das mir eine Freundin geschenkt hatte. Darin hat Patti Smith eine Sammlung ihrer Instagram-Posts veröffentlicht. In meinem Blog habe ich dieses Buch am 21. Juni 2023 vorgestellt. Patti Smith hat ihre Posts wie Aufzeichnungen eines Tagebuches behandelt und ihnen dadurch eine literarische Note gegeben. Das gefiel mir schon damals sehr.

Hanna: Du verbindest in Deinen Posts ein selbst gemachtes Foto mit einem Kurztext.

HJO: Ja, ich verschicke Postkarten an die Leserinnen und Leser. Bilder meiner Räume und Vorlieben, die ich kurz kommentiere. Das mache ich vorläufig täglich, so dass eine Art Reise durch meine Lebenswelten entsteht.

Hanna: Was wird denn getestet? Was verstehst Du darunter?

HJO: Zunächst mal teste ich mich selber. Welches Bild oder Foto aus Deinem täglichen Bildervorrat wählst Du aus? Welches hält eine Nuance des vergangenen Tages fest? Und zweitens teste ich den Geschmack der Community: Wie beurteilen sie die Bilder, welches mögen sie, welches weniger? Das ist sehr aufschlussreich.

Hanna: Inwiefern?

 HJO: Weil sich da ein Geschmack artikuliert, der nicht mein eigener ist. Ich selbst mag zum Beispiel Bilder von manchen Speisen, die ich gegessen habe. So habe ich Fotos eines Spargel-Menüs gepostet – das kam aber nicht besonders gut an. Wenn ich dagegen einen alten Baum im Morgensonnenlicht vor dem Hintergrund einer ruhigen Grünfläche poste, steigt die Zustimmung. Das überrascht mich. Ich versuche, möglichst unterschiedliche Motive zu posten, sie sollen kein zusammenhängendes Bild ergeben, sondern wie die Aufzeichnungen des Blogs einen kunterbunten, abwechslungsreichen Charakter haben.

Hanna: Könntest Du Dir vorstellen, Deine Instagram-Posts wie Patti Smith in einem Buch zu veröffentlichen?

 HJO: Nein, das würde ich nicht tun. Ich kann mir erklären, dass und warum Patti Smith dieses schöne Projekt verwirklicht hat. Sie ist eine bekannte, verehrte und hochgeschätzte Frau, an deren Leben manche Leserinnen und Leser gerne teilnehmen wollen. Ich aber habe nicht diesen Nimbus, niemand würde interessieren, ob ich Spargel oder Kichererbsen esse.

Hanna: Mich interessiert das schon – aber nicht aus primären, sondern eher aus sekundären Gründen. Bestimmt könntest Du nämlich etwas Interessantes zum Thema Spargel oder Kichererbsen sagen. Das hat mich schon oft erstaunt: Dass Du zu vielen Motiven oder Themen etwas sagst, worauf ich nie gekommen wäre. Du packst und gehst sie anders an.

 HJO: Ich vermute, das ist eine Art französischer Reflex. Viele französischen Schriftsteller waren darin vorbildlich. Ich meine die großen Essayisten, die Motive und Themen aus einer radikalen Ich-Perspektive heraus angehen. Das kann man von Montaigne, dem ersten Essayisten, herleiten, und Roland Barthes ist der späte, unerreichte Meister dieses Wahrnehmens und Denkens.

Hanna: Haben Deine Instagram-Posts auch etwas davon?

 HJO: Nein, sie sind davon unberührt. Meine Text-Kommentare sind Kurznachrichten mit einem anekdotischen Anteil.

Hanna: Wie lange wirst Du auf Instagram posten?

 HJO: Keine Ahnung. Ich verbinde zum Glück ja nicht viel damit, es ist einfach eine sommerliche Abwechslung, ein Spiel, in das ich kaum Zeit investiere. Und es passt wirklich gut zu heißen Tagen. Das gefällt mir: Heiße Tage und posten, als würde die innere, überhitzte Flasche plop machen und für einen Moment aufspringen. Etwas Lebensgas entweicht, aber höchstens ein Hauch, eine Brise, nichts Fundamentales.

Hanna: Mir gefällt Dein Foto vom Fischrestaurant in der Stuttgarter Markthalle am besten. Man kann es lange anschauen und viel entdecken – das wären für mich Kriterien für ein gutes Bild. Aber denkst Du nicht daran, dass Du dort nicht mehr in Ruhe essen kannst, weil dort Menschen auftauchen werden, die das Foto gesehen haben?

 HJO: Aber nein. Stalkerinnen oder Stalker sind mir nicht auf den Fersen, und außerdem verwende ich in Notfällen kleine Tricks, um unerkannt zu bleiben. Außerdem: Ich bin nicht Patti Smith, wirklich nicht.

Hanna: Die kleinen Tricks kenne ich, ja, ich weiß, was Du meinst. Aber das behalten wir nun wirklich für uns. Immerhin erhältst Du seit Deinen Instagram Posts nun auch rasche und direkte Reaktionen auf Deine Fotos und Texte. Das war und ist im Fall der Blogeinträge nicht der Fall.

 HJO: Ehrlich gesagt, habe ich nie verstanden, wie man fast zweitausend Einträge zur Kenntnis nehmen kann, ohne sich auch nur einmal zu rühren. Ich habe das als Couch-Blogging verstanden. Reaktionslos, passiv – so etwas ist ein Graus.

Hanna: Du hast aber doch durchaus viele Mails erhalten. Es waren nur keine inhaltlichen Reaktionen auf Deine Einträge, sondern eher Fragmente von Lebensgeschichten der Leserinnen und Leser.

HJO: Ja, so war das. Und das ist auch etwas, natürlich, durchaus. Aber manchmal freut man sich auch einmal über ein kurzes, anerkennendes Kopfnicken. Ich denke noch immer, kaum jemand kann sich vorstellen, wie es jemand auf zweitausend Einträge bringt. Das ist kurios und einzigartig und könnte manchmal einen kurzen, zustimmenden Gruß wert sein. Oder?

Hanna: Ich grüße fast jeden Morgen zustimmend, das solltest Du nicht vergessen.

Das Sommerinterview 1 – Das Entrée

Am 28. August 2023 habe ich meine Mitarbeiterin Hanna vorgestellt, wir haben ein erstes und wenig später (am 13. September 2023) ein zweites Gespräch geführt und im Blog veröffentlicht.

Daran möchten wir anknüpfen und, der Jahreszeit folgend, ein Sommerinterview in mehreren Folgen gestalten. Darin soll es um viele Fragen gehen, die Leserinnen und Leser im Blick auf meine letzten und die geplanten nächsten Veröffentlichungen interessieren könnten. Das Ganze als eine Art Resümee, um den Stand der Dinge festzuhalten und einen Überblick zu gewinnen.

Das Sommerinterview fand und findet frühmorgens ab 9 Uhr im Garten statt, wir frühstücken zusammen und sprechen mit kleineren Pausen bis zum Mittag.

Hier das Entrée.

Hanna: Fangen wir mal nicht mit Literatur, sondern mit Sport an. Du hast Spiele der EM 2024 verfolgt, einige Wimbledon-Matches gesehen und freust Dich auf die bald beginnenden Olympischen Spiele. Was interessiert Dich am Sport?

 HJO: Die Intensität der schönen, vieles verändernden und entscheidenden Augenblicke. Das unerwartete Tor, ein Ballwechsel in einem Tennismatch, der den Spielverlauf kippt und von den Spielenden eine Neubesinnung auf ihre Taktik verlangt. Solche Augenblicke, in denen sich etwas zuspitzt und die Dinge sich drehen und wenden! Sie fordern Vermutungen darüber heraus, was in den Menschen vorgeht und an welchen Geschichten sie innerlich schreiben. Als Zuschauer bin ich wie ein Psychologe beteiligt, der Vermutungen anstellt.

Hanna: Das heißt, Du schreibst an diesen Geschichten mit? Du könntest sie aufschreiben und erzählen?

 HJO: Ich könnte versuchen, ihr Genre zu bestimmten. Das tun die jeweiligen Akteurinnen oder Akteure durch ihr Auftreten, die Gestik, den Bewegungsablauf. Im Männer-Fußball zum Beispiel gibt es die Mitläufer, die sich um jeden Preis in das Spiel der Mannschaft einreihen wollen, und es gibt die Solisten, die mehr von sich verlangen und etwas bieten wollen, und es gibt die fleißigen Arbeiter, die sehr viel laufen und die Rhythmen in Gang halten – Beschleunigung, Pause, Ausdehnung, Konzentration. Dieses Rollenspiel zu verfolgen, ist interessant.

Hanna: Es lenkt Dich ab? Du kommst auf andere Gedanken?

 HJO: Das nun gerade nicht, sondern im Gegenteil: Ich erlebe den Sport wie ein Drama oder eine Erzählung, und die stärksten Augenblicke, die ekstatischen also, sind pure Lyrik (Hymnus, Ode, Lied). Es ist übrigens gut, einiges über die Beteiligten zu wissen, Biografisches etwa – wie und wo sich diese Aktionen entwickelt haben, das gehört dazu.

Hanna: Wenn Du Sportübertragungen im Fernsehen siehst, ist das für die Mitschauenden keine reine Freude. Du haderst mit den Kommentaren, Du kommentierst selbst, Du bist nicht still, keine Minute.

 HJO: Stimmt, es ist schlimm. Ich kann die Erregung nicht drosseln oder ausbremsen. Selbst wenn das Spiel vor sich hinplätschert, rede und rede ich.

Hanna: Du machst Vorschläge, wohin der Ball gespielt werden sollte, Du berätst den Trainer, wer aus- oder eingewechselt werden sollte, Du bist selbst laufend in Aktion …

 HJO: Ja, ich rede wie der irre Autofahrer im Straßenverkehr, der ununterbrochen kommentiert, was er sieht und erlebt: Jetzt bieg endlich ab!, Warum blinkt der nicht?, Warum beschleunigt sie plötzlich so?

Hanna: Zum Glück fährst Du kaum noch Auto. Warum eigentlich nicht?

 HJO: Ich denke an zu viel anderes, ich bin im Kopf sehr beschäftigt, es ist schlicht gefährlich. Niemand fährt gern mit mir.

Hanna: Ich schon, ich sitze gern neben Dir und kommentiere die Strecke mit Hilfe des Navi: Wir überqueren gerade einen kleinen Fluss, die Drönitz, in zweihundert Metern erscheint rechts ein Gasthof, Zum dicken Bären, die bieten ein Wild-Menü mit frischen Pfifferlingen an …, so in der Art rede ich, und Du hast anscheinend eine Freude daran.

 HJO: Und wie! Ich fühle mich aufgehoben, wir gleiten durch ein Panorama der räumlichen Eindrücke – wie früher in den Übertragungen der Tour de France, als den Zuschauern die Geschichte jedes Kirchleins am Wegrand erklärt wurde. Das habe ich sehr gemocht.

Babygesänge

Babygesänge ist ein revolutionäres, viele Komponenten der menschlichen Existenz berührendes Buch. Kathleen Wermke arbeitet als Evolutionsbiologin und Professorin an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Sie hat Tausende von Kleinkinderlauten untersucht und nachgewiesen, dass sie als Formen einer frühen Musik zu verstehen sind.

Solche Gesänge sind individuelle und sogar kulturell geprägte Profile, die sich zunächst an der Lautlichkeit der Mutter und danach an den Lauten der frühen Umgebungen orientieren. Das Kleinkind schnappt auf, ahmt nach und bildet um!

Davon ausgehend, kann man auch auf Formen erster Prägungen beim Sprechen schließen, die sich zu Prägungen im Wahrnehmen und Schreiben entwickeln. Wie und was man spricht (und schreibt!) ist also keineswegs zufällig, es lässt sich aus dem individuellen Familienroman herleiten und begreifen.

Als hätte ich es schon immer geahnt und gewusst! Immer wenn ich in einem Lokal oder auf der Straße Eltern mit Kleinkindern sehe, zücke ich nun mein Handy und mache eine Empfehlung. Unbedingt kaufen und lesen! Und das Kleinkind nicht nur mit Schlagern unterhalten!

https://www.ardmediathek.de/video/capriccio/geheimnisvoller-babygesang/br-fernsehen/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdFNjaGVkdWxlU2xvdC80MDQ2MzQ1NjA4MTNfRjIwMjNXTzAxOTExM0EwL3NlY3Rpb24vNTlmNTMzMmUtOTBkOC00M2IyLWJmNzItYjg1ODE2ZDUwNjUw

Die Konsequenzen für das Literarische Schreiben sind sofort erkennbar. Schon im Kleinkindalter ergeben sich durch die ersten Orientierungen an den Lauten der Mutter und denen der Umgebung Klangprofile, die sich später in Wort-, Satz- und Ausdrucksprofile von Sprache verwandeln!

So ist das Schreiben geprägt, und so kann es sich auf der Basis von Prägungen besonders dann gut entwickeln, wenn die Prägungen erkannt werden.

Genau auf diese Hypothese habe ich viele Komponenten meiner Lehre an der Universität Hildesheim aufgebaut, die zum ersten Mal die große Rolle von Schreibprofilen beim Lernen und Lehren von Schreiben herausstellte.

Die Lesung als Fest 2

 

Vor etwas weniger als einem Jahr, am 24.7.2023, stellte ich einen Eintrag in diesen Blog, der von einer besonders schönen Lesung auf dem Weingut Pieper-Basler in Offenburg erzählte. Fast 300 Zuhörerinnen und Zuhörer waren zu dieser Lesung im Freien gekommen, und die Atmosphäre war exorbitant: Ein Zusammenspiel von Umgebung und Atmosphäre, gehalten von Texten, die vom Essen und Trinken erzählten.

Am Freitag, 12.07.2024, 19.30 Uhr, kam es erneut zu einer festlichen Sommerlesung, diesmal aber wegen des vorangegangenen Gewitters nicht im Freien, sondern im bis auf den letzten Platz besetzten Schillersaal des Offenburger Schiller-Gymnasiums (siehe Fotos oben).

Ich las Ausschnitte aus Von nahen Dingen und Menschen – und wieder ereignete sich das Zusammenspiel von Publikum und Vortrag: Häufiger Zwischenapplaus und eine entspannte Hingabe an den Zeitstrom der Geschichten, Standing Ovations hinterher!

Erneut hörte ich beim Signieren (über eine Stunde lang!) vom Wunsch, diese Lesung aufgezeichnet nacherleben zu können. Daran wird gearbeitet.

Die Lesung vom vorigen Jahr ist aber bereits auf zwei CDs gespeichert und nun auch zu kaufen: Die erste enthält die Sommerlesung 2023, die zweite die Zugabe (eine Erzählung vom Kuttelkochen in mediterranem Gusto). Beide CDs können zum Preis von jeweils 15 Euro bei der Offenburger Buchhandlung Akzente (info@buchhandlung-akzente.de) bestellt werden.

So kann man sich mitten im Sommer in einen Liegestuhl zurückziehen, die Augen schließen und spüren, wie der Sommer sich öffnet. Viel Freude damit!!

Gesellen der Musik

Was für eine schöne Aufnahme! – und zwar nicht deshalb, weil sich hier „ein Wunderkind“ präsentiert. Nein, das ist es nicht.

Die Aufnahme begeistert mich, weil der dritte Satz von Beethovens 2. Klavierkonzert hier so klingt, als bilde er etwas von der intuitiven Lebendigkeit dieses jungen Pianisten ab, der 2011 in Genf geboren wurde.

Er spricht mit dem Stück, aber das Stück spricht eben auch mit ihm, sie sind Partner oder Gesellen im Geiste – ein Jugendtreffen!

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich für das Wochenende eine Dosis von diesem emphatischen Esprit!

Michael Faust erzählt von Brahms 4

Mein Kölner Freund Michael Faust, Solo-Flötist des WDR-Symphonieorchesters, spricht in einem Video auf YouTube über die vierte Symphonie von Johannes Brahms (1833-1897).

Das ist ein leider viel zu selten genutztes Format: Ein Mitglied des Orchesters erzählt von den Empfindungen und Gedanken, die ihn während des Spiels einer besonders geliebten Komposition begleiten.

So erfahren wir am Rande Analytisches (über Melodien und Themen), mehr aber noch über das, was bestimmte Teile der Komposition an Herzensgegenwart auslösen.

Ich liebe und schätze solche Projekte, sie offenbaren etwas über die inneren Aneignungen von Kunst und Musik, die viel bedeutsamer und prägender sind als alle sogenannten „Bildungsanstrengungen“ theoretischer Natur.