Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach

Karsamstag

Erinnerung an die Aufführung der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach durch die Berliner Philharmoniker, dirigiert von Simon Rattle, in der Berliner Philharmonie – die legendär gewordene Version, gestaltet von Peter Sellars, als DVD zu sehen, aber auch über die digitalen Kanäle der Philharmonie abrufbar:

Das Ende der Verblendung

(Am 12.4. auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

All jene unter meinen Freunden, die sich noch genau an die Nachkriegszeiten erinnern und aus deren Erfahrung früher einmal ihre Zukunftsvisionen ableiteten, sind seit dem Beginn des Ukraine-Krieges laufend damit beschäftigt, ihre Lebensgeschichten zu sichten und neu zu befragen: Warum hat mich die Kriegspolitik Putins so überrascht, warum war ich nicht wach und aufmerksam genug und warum bewege ich mich jetzt wie gelähmt und hilflos, ohne eine Antwort auf mein Versagen und meine Ignoranz zu finden?

In unseren aufgewühlten Unterhaltungen spielt eine große Rolle, dass die geopolitischen Vorstellungen der meisten Freunde von der Annäherung der Westmächte nach dem Krieg geprägt sind. Erschien die Versöhnung zwischen den früheren „Erzfeinden“ Frankreich und Deutschland nicht wie ein welthistorisches Signal für einen dauerhaften Frieden? Und verstärkte die allmähliche Entstehung der EU und der NATO nicht die Vermutung, dass die Kriegszeiten wahrhaftig endgültig vorbei seien und die Völker und Staaten des Westens Mittel und Wege gefunden hatten, miteinander auszukommen und zu leben?

Die fünfziger und sechziger Jahre waren in diesem Sinn Jahre einer Friedensarchitektur, die eine fortschreitende Annäherung der westlichen Länder mit nachhaltigen Handelsverbindungen verknüpfte und dadurch glauben machte, der militärische Frieden habe eine starke Basis im wirtschaftlichen Fortschritt.

Diese positiven Friedenserfahrungen erhielten in den siebziger und achtziger Jahren ihre Ergänzung durch die Ostpolitik, das Ende der DDR, den Zerfall der Sowjetunion, die Verträge mit Polen und die Ausweitung der EU. Die Freunde sahen sich damals in ihrer Einschätzung bestärkt, dass die Methoden der Friedenssicherung im Westen auf den Osten übertragen werden und dort zu ähnlichen Erfolgen führen könnten. Anfang der neunziger Jahre leuchtete die Idee eines „Gemeinsamen Haus Europa“ (Gorbatschow) so stark wie nie, die Nachkriegszeit erschien endgültig beendet. Als die Kriegsmanöver im zerfallenden Jugoslawien begannen, wurden sie noch lange als Störmanöver, aber nicht als erste Anzeichen von aggressiven Brüchen einer auf dauerhaften Frieden setzenden Europapolitik begriffen.

Die Strategien der Friedenssicherung erschienen vielmehr weiter durch die Nachkriegsverhandlungen vorgegeben: Verträge schließen, die Annäherung der Völker so umfassend wie möglich in allen Bereichen betreiben und einen diplomatischen Verkehr in Bewegung halten, der mit einem Auge das politisch Mögliche verfolgt und mit dem anderen die Belohnung durch wirtschaftliches Wachstum im Blick behält. So sah man in den russischen Gesprächspartnern weiter nahe Bekannte oder sogar Freunde, mit denen sich alles jederzeit regeln lassen würde. Die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft erschien als zusätzliches Vertrauensangebot. Wer konnte noch damit rechnen, dass Waren, Güter und Verkehrsströme der aggressiven Durchsetzung machtpolitischer Interessen dienen würden?

Erst mit Beginn des Ukraine-Krieges erschienen die russischen Politiker wie nicht mehr ansprechbare Figuren von gestern, die der Nachkriegspolitik der friedensorientierten Zeitsprünge nicht gefolgt waren, sondern sich weiter in den alten ideologischen Bunkern verschanzt hatten. Am langen Tisch saßen die westlichen Regierungschefs in weiter Entfernung einem Diktator gegenüber, der gar nicht mehr auf Gespräche und Verhandlungen bedacht war, sondern seinen Truppen längst Kriegsbefehle erteilt hatte.

Die große Blendung – sie hatte im Westen ihre Hauptursachen darin, dass West- und Ostpolitiken jahrzehntelang so überzeugend und beinahe betörend gewirkt hatten, dass die realen Zeugnisse von Gewalt, Abschottung und Despotismus nicht als große Gefahren wahrgenommen wurden. Mit dem Ende der Verblendung erscheint das Nachdenken über die Nachkriegszeit wieder aktuell. Es bleibt nichts übrig, als den alten Glanz der Verständigungen zu polieren und darauf zu hoffen, dass durch den Westen der Ruck einer neuen Wachsamkeit geht, der sich nicht mehr auf Illusionen verlässt.

Unterwegs im Westerwald

In den letzten, stilleren Jahren meiner Rekonvaleszenz war ich wieder viel in meiner „Urheimat“, dem Westerwald, unterwegs. Dabei sind erzählende und essayistische Texte entstanden, die mein bereits 2019 erschienenes Buch Im Westerwald erheblich erweitert haben.

Die erweiterte Fassung ist in diesen Tagen mit dem neuen Titel Unterwegs im Westerwald als Taschenbuch im Insel-Verlag erschienen (247 Seiten, 13,95 Euro).

Darin durchkreuze ich u.a. zu Fuß oder mit dem Rad die heimatliche Region, besuche das Landschaftsmuseum Westerwald (in Hachenburg), höre auf die Sprachen des Westerwaldes (Wäller Platt) und widme mich August Sander, dem großen Fotografen des Westerwaldes, in dessen Fotografien ich mich immer wieder vertieft habe – bevor ich in der SALA Ortheil ankomme, in der ich meine eigenen fotografischen Erinnerungen ausgestellt habe und viele andere Erinnerungsstücke aufbewahre.

Die Karlsruher Passion

Im Kölner Wallraf-Richartz-Museum ist seit einigen Tagen die Karlsruher Passion des Straßburger Meisters Hans Hirtz zu sehen. Es sind sieben Gemälde eines ergreifenden, hochdramatisch inszenierten Zyklus, die um 1450 entstanden sind.

Die Bilder sind keine Altarbilder, sondern Szenen, die man aus der Nähe, vorübergehend, wie auf einem Passionsweg, betrachtet. Sie sind voller erzählerischer Details, die nicht deutlich voneinander getrennt sind, sondern ineinander verwoben, so dass man sie miteinander verbinden muss. Als Erzählfolie dient die Passionsgeschichte des Neuen Testaments.

So etwa auf dem Bild, das Christi Gebet am Ölberg inszeniert, wie es im Matthäus-Evangelium (26, 36-46) erzählt wird:

Dann ging Jesus mit seinen Jüngern in einen Garten am Ölberg, der Gethsemane heißt. Dort bat er sie: »Setzt euch hier hin und wartet auf mich! Ich will ein Stück weiter gehen und beten.« 37 Petrus und die beiden Söhne von Zebedäus – Jakobus und Johannes – nahm er mit. Angst und tiefe Traurigkeit überfielen Jesus, 38 und er sagte zu ihnen: »Ich zerbreche beinahe unter der Last, die ich zu tragen habe.[a] Bleibt hier und wacht mit mir!« 39 Jesus ging ein paar Schritte weiter, warf sich nieder und betete: »Mein Vater, wenn es möglich ist, dann lass den Kelch an mir vorübergehen und erspare mir dieses Leiden! Aber nicht was ich will, sondern was du willst, soll geschehen.«

Hier ein Bildausschnitt: Der Engel reicht den Kelch des Leidens, im Hintergrund die Stadt Jerusalem und das  Waffenheer der Soldaten, die Jesus gefangen nehmen werden…

Biographeme

Eine Blog-Leserin aus dem Norden schrieb mir, dass sie von dem heiligen Hermann Joseph, der im Kloster Steinfeld in der Eifel als Mönch lebte, früher einmal in Köln gehört habe. Und zwar in Zusammenhang mit dem Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann (1918-1970), der eine Schule von Kloster Steinfeld besuchte.

Eines seiner Hauptwerke, das Requiem für einen jungen Dichter, habe er dem heiligen Hermann Joseph gewidmet. Ob ich das Requiem kenne? Und ob es sich bei der Verbindung von Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld ebenfalls um ein Biographem handle? Und wenn ja – was denn eigentlich ein Biographem sei?

Ich antworte der Leserin aus dem Norden, dass ich von der Verbindung des Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld nichts wusste und das Requiem für einen jungen Dichter nicht kenne. Ich werde mir das Stück aber sobald wie möglich anhören.

Außerdem antworte ich, dass es sich bei der Verbindung des Kölner Komponisten Bernd Alois Zimmermann mit Kloster Steinfeld in der Tat um ein Biographem handelt. Ein Biographem ist ein nicht fiktives, sondern reales, partikuläres Narrativ einer Biographie in Form eines einzelnen biographischen Elements. Ein Biographem kann Berührung mit Biographemen anderer Personen aufnehmen und dazu beitragen, ein räumliches oder zeitliches Netz entstehen zu lassen, zum Beispiel eines um das Kloster Steinfeld oder um den heiligen Hermann Joseph. In solchen Fällen könnten Panoramen entstehen, die um einzelne, zentrale Themen-Momente herum Ablagerungen von Biographeme anziehen.

Hermann Joseph und Hanns-Josef

Ein Blick in den Heiligenkalender sagt mir, dass heute an den heiligen Hermann Joseph erinnert wird. Viele meiner Freunde im Rheinland haben diesen Namen erhalten, der dann ein Vorname ist, im Falle des Heiligen aber kein Vorname war.

Denn Hermann Joseph (um 1150-1241) war ein Mönch mit Namen Hermann, dem wahrscheinlich die Ordensbrüder (des Prämonstratenserordens) den Beinamen Joseph gaben. Er wurde in Köln wohl in der Nähe der romanischen Kirche St. Maria im Kapitol geboren, in der er eine Marienstatue besonders verehrte. Einmal soll er – der Legende nach – dem Jesuskind einen Apfel angeboten haben, den die Gottesmutter für den Sohn dankend und lobend annahm. Daher der Beiname Joseph.

Die Vita des Heiligen ist eng mit dem Kloster Steinfeld in der Eifel verbunden, in das er bereits als Zwölfjähriger aufgenommen wurde. Da er schon früh Gebete, Danksagungen und Hymnen verfasste, gehören ein Tintenfass, ein Schreibheft und ein Federkasten zu seinen Attributen.

(Als mein Vater relativ spät darauf aufmerksam wurde, bereute er es, dass die Eltern mir den Vornamen Hanns-Josef gegeben hatten. „Hermann Joseph wäre treffender gewesen“, sagte mein Vater.

Und es stimmt – es gibt eine beachtliche Schnittmenge von Biographemen: Den gemeinsamen Geburtsort Köln, Besuche von St. Maria im Kapitol, das frühe und intensive Schreiben, die Freude an hymnischer Lyrik etc.)

Über Bäume

Mit dem allmählichen Verschwinden des Schnees macht sich das junge Frühlingsgrün der Sträucher und Bäume wieder bemerkbar. Dazu passt ein sehr lesenswertes Büchlein, das gerade im Reclam-Verlag erschienen ist. Der römische Autor Plinius stellte im 1. Jahrhundert n.Chr. das zu seiner Zeit zirkuliende Wissen über die Natur in monumentalen Enzyklopädien zusammen.

Der Reclam-Band bringt auf etwas mehr als zweihundert Seiten ausgewählte Passagen: Über Bäume (ausgewählt, herausgegeben und übersetzt von Bernhard Herzhoff, lateinisch/deutsch).

Die Einleitung feiert den „hohen Wert der Bäume“, dann geht es um besonders große und eindrucksvolle (wie etwa die Platane), um duftende, um die Dattelpalme und ihr Liebesleben, um Ölbaum, Lorbeer, um eicheltragende Waldbäume, um Nadelbäume, um Bäume und ihre Biotope generell – und besonders schön, um die „sinnliche Liebe zu einer Rotbuche“.

Über die Frühlingstage heißt es: Die Blüte ist ein Anzeichen des vollen Frühlings und des sich erneuernden Jahres, die Blüte ist die Wonne der Bäume. Dann zeigen sie sich in neuem Schmuck und anders, als sie gewöhnlich sind, dann schwelgen sie im Wettstreit ohne Unterlass in bunten Farbenspielen…

Retro-Schnee

In den letzten Nächten ist viel Schnee gefallen. Schnee Anfang April! Warum empfinde ich das als wohltuend? Warum könnte er, wenn es nach mir ginge, noch länger liegen bleiben?

Vielleicht, weil er nicht mehr der Schnee des Winters ist, sondern ein Schnee, der keine winterlichen Anforderungen stellt. Ski fahren? Schlitten fahren? Ach was! Ein Gang durch den schneebedeckten Wald? Ja, höchstens das.

Und was ist zu sehen? Keine dichten Schneedecken, sondern solche, die Wege und Markierungen noch erkennen lassen. Die Erdschichten erscheinen als Andeutungen, vage sichtbar, wie Zitate. Die faden Konturen des Vorfrühlings sind auslöscht, das poröse Weiss ist eine legere Textur, die etwas enorm Beruhigendes, Schlichtendes hat.

Stille, Ruhe, keine lauten Aktionen des Aufbruchs, keinerlei Frühlingsimpulse, die Zeit noch einmal stillgestellt, um ein wenig Luft zu schöpfen und durchzuatmen, bevor das Hasten und Streben und Laufen wieder beginnt…

In meinen Gärten und Wäldern stark erweitert

In den Zeiten meiner Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit habe ich mich in meine Gärten und Wälder zurückgezogen. Ich habe ihre Pflanzen, Sträucher und Bäume fotografiert und von ihren Lebensformen in Kurzprosatexten erzählt.

Dabei erscheine ich nicht als Gärtner oder Botaniker, sondern (kurios genug) als passionierter Eisenbahnlandwirt, der das Gartenleben auf sehr eigene Weise porträtiert.

Jetzt ist die zweite, stark erweiterte Auflage des schön gestalteten Buches in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung erschienen.

Sollten Sie dieses Buch kaufen oder erwerben (was mich besonders freuen würde – das Buch ist ein ideales Frühjahrs- und Ostergeschenk), achten Sie bitte darauf, dass Sie auch wirklich ein Exemplar der zweiten, erweiterten Auflage erhalten. (Sie hat 216 Seiten, während die erste Auflage 183 Seiten hat.)