In großer Stille 1

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich

frohe, gesegnete Weihnachten!

Adeste fideles laeti triumphantes
Venite, venite in Bethlehem
Natum videte regem angelorum

Venite, adoremus,
Venite, adoremus,
Venite, adoremus, dominum!

Deum de Deo, lumen de lumine,
Gestant puellae viscera
Deum verum, genitum non factum.

Venite, adoremus,
Venite, adoremus,
Venite, adoremus, dominum!

Gloria in excelsis Deo!

Venite, adoremus,
Venite, adoremus,
Venite, adoremus, dominum!

https://cms.vivat.de/themenwelten/jahreskreis/weihnachten/adeste-fideles-weihnachtslied.html

 

Der tausendste Beitrag – ein Innerer Dialog

Heute, Mittwoch, 23. Dezember 2020, veröffentlichst Du den tausendsten Beitrag in Deinem Blog. Bist Du stolz? – Nee, stolz nicht. Stolz ist etwas für Menschen, die sportliche Bestmarken oder Höchstleistungen vollbringen. – Was denn? Bist Du gerührt? – Ja, leicht gerührt. – Wieso das? – Rührung hat mit Treue zu tun. Ich bin dem Schreiben treu geblieben, meinen Ideen, meinen Themen, jahrelang. – Empfindest Du auch so etwas wie Glück? – Ja. Weil das Schreiben mich getragen hat – wie das Meer, das ich so liebe, weil es etwas Großes, Weites, Universelles ist, das mich trägt. – Dann und wann… – Dann und wann. – Es gibt auch hohe Wellen, Stürme, Schiffbrüche… – Jetzt werden wir mal nicht pathetisch oder sentimental – und bleiben mal beim ungeschmälerten Glück, klein, aufmerksam und guter Dinge, wie eine herumeilende Maus auf ihrem Miniterrain. – Sagtest Du…wie eine Maus? – Ich bin etwas übermütig und albern. – Endlich einmal. Wie feierst Du Deine Tausend? – Am liebsten würde ich mich ans Klavier setzen und spielen. – Warum tust Du es nicht? – Die Krankheit im letzten Jahr hat mir das Klavier genommen. – Was heißt das? – Ich konnte nicht mehr beidhändig spielen, ich musste mit dem Üben ganz von vorne beginnen. – Geht es voran? – Langsam, ja, aber es geht voran. – Was würdest Du spielen, wenn Du könntest? – Was ich oft gespielt habe, wenn ich etwas feiern wollte und glücklich war. – Und das wäre? – Die Fantasie opus 17 in C-Dur von Robert Schumann. – Ah ja. – Ah ja!

Vor dem tausendsten Beitrag

(Der Journalist Justus Mohle hat mich zu meinen Blogbeiträgen befragt)

Herr Ortheil, morgen werden Sie in diesem Blog Ihren tausendsten Beitrag veröffentlichen! Ich ziehe den Hut – und frage: Wie haben Sie das gemacht?

Im Grunde habe ich genau das getan, was ich seit Kindertagen tue: Täglich und kontinuierlich aufschreiben, was mir durch den Kopf geht. Ich reagiere stark auf eher zufällige Impulse, die oft von außen kommen. Ich lese etwas in den Zeitungen, ich höre ein Gespräch, ich unterhalte mich – und schon geht die innere Selektion los. Ohne langes Nachdenken, einfach einem Impuls folgend, ihn aufgreifend und vertiefend.

Wie geht so ein „Vertiefen“?

Ich notiere den Impuls und beginne zu recherchieren. Als verfolgte ich ein musikalisches Motiv und müsste Variationen dazu schreiben. Ich leihe Bücher aus, bestelle bei Verlagen Rezensionsexemplare von Neuerscheinungen, lese viel, höre mich um. Manche Impulse versiegen, die meisten aber blühen auf und wachsen – bis sie Eingang in den Blog finden.

Der Blog als eine Art Tagebuch?

Höchstens als eine Art. Das Tagebuch wäre ein intimes, nur für den Schreibenden selbst angelegtes Notieren seiner Blicke und Gedanken, der Blog aber ist öffentlich und macht Denkprozesse des Schreibenden nach außen hin sicht- und vor allem nachvollziehbar. Die Lesenden nehmen zu einem gewissen Grad an den Suchbewegungen in meiner Werkstatt teil. Sie erleben sehr nah, womit ich mich beschäftige, ja, sie können in manchen Fällen sogar beobachten, wie ein neues Buch entsteht. In meinen Gärten und Wäldern ist gerade erschienen, und dieses mir viel bedeutende und schöne Buch besteht u.a. aus Blogbeiträgen, die während der letzten Jahre zusammengekommen sind und einen roten Faden haben: Die Aufenthalte draußen im Freien, rund um meine Gartenhäuser.

Könnte man den Blog als ein literarisches Werk mit einem eigenen Werkzusammenhang verstehen?

O ja, unbedingt – und leider nehmen zum Beispiel die Rezensenten und sonstigen Beobachter des literarischen Lebens davon nicht die geringste Notiz. Sie beugen sich noch immer über Bücher, nichts als Bücher. Die digitalen Welten kommen nicht vor, das ist fast ein Skandal. Für die meisten sind Blogs Influencer-Spielplätze, mit Tipps, hübschen Fotos und kurzen Filmchen – und damit nichts anderes als kalkulierte Botschaften oder Werbung. In meinem Fall sind die Beiträge aber Fortschreibungen meiner literarischen Texte insgesamt: Ausblicke, Anbauten, Erweiterungen, Reflexionen – und sie kreisen um den zentralen Bau des kreativen Ichs mit all seinen eigentümlichen Dispositionen, das laufend seine Antennen ausfährt. Jeder Beitrag ist mit meinem Leben sehr konkret verbunden, jedes Foto, jedes Youtube-Zitat, alles erzählt meine Geschichten weiter. Das ist ja das unbedingt Neue und Großartige!

Das kontinuierliche Bloggen macht Ihnen anscheinend noch immer Spaß.

Ich würde sofort damit aufhören, wenn es nicht so wäre. Das Bloggen ist ein ganz besonderes Vergnügen, als besäße ich ein eigenes Medium, ähnlich einer Zeitung oder einem Sender, mit dessen Hilfe ich in direkten Kontakt zu den Welten um mich herum trete. Und diese Welten sind weit: Sie reichen, man stelle sich das vor, bis in die USA und Südamerika, bis nach Australien und zu den Philippinen. Von überall erhalte ich Rückmeldungen – inzwischen sind es so viele, dass ich sie nur noch zum Teil erwidern kann. Leider bin ich kein Hermann Hesse, der sich in Tausenden von Briefen mit seinen Leserinnen und Lesern unterhielt. Ich weiß, ehrlich gesagt, auch nicht, wie er das gemacht hat, ich käme da völlig durcheinander, weil ich nicht mehr überblicken könnte, was ich irgendwann einmal so alles geschrieben oder geantwortet hätte.

Sie machen also nach der Nummer Tausend weiter?

Selbstverständlich. Es ist ja alles ein großes Experiment, das mich mit jedem Beitrag neu fordert und auf neue Ideen und Wege bringt. Ich bin gespannt darauf, was noch alles so kommt…

Dann gratuliere ich herzlich und freue mich mit Ihnen auf die Zukunft, vielen Dank für das Gespräch!

Letzte Geschenke 3 – Italien

(Viele Leserinnen und Leser haben mich um Empfehlungen für Buchgeschenke gebeten, bezogen auf Bücher anderer Autorinnen und Autoren – und auf meine eigenen Titel. Ich möchte beides miteinander verbinden – in Folge 3 geht es dabei um ITALIEN!)

  • Italiens Weg in die Neuzeit ist der welthistorisch einzigartige Aufbruch zu völlig neuen Formen des Erfindens und Denkens, der sich in unzähligen Texten italienischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu allen kulturellen Themen und Bereichen niedergeschlagen hat. Tobias Roth hat wegweisende Ausschnitte aus solchen Werken gesammelt und klug kommentiert. Seine Anthologie ist auch wegen ihrer schönen Gestaltung ein Buch, das man ein Leben lang in die Hand nimmt, um sich zu vergewissern: In der Renaissance ist jene für Italien typische Mischung aus Leichtigkeit, Lebensfreude und einem eminenten Sinn für Schönheit entstanden!

Tobias Roth: Welt der Renaissance. Galiani 2020

  • Vor fünfhundert Jahren starb der große Raffael in Rom. Sein Zeitgenosse Giorgio Vasari (1511-1574) war der erste Schriftsteller, der ausführlich von seinem Leben erzählt hat. Die neue Reclam-Ausgabe bringt Vasaris Text, ergänzt durch Kommentare und eine Hinführung zu seinem Werk durch Roland Kanz. Daneben enthält der schmale Band auch Abbildungen der von Vasari erwähnten Kunstwerke. Ein Büchlein, das man in die Tasche stecken und mit dem man bester Laune spazieren gehen kann, um überall unterwegs darin ein wenig zu lesen und sich an eigene Raffael-Eindrücke zu erinnern!

Giorgio Vasari: Das Leben des Raffael von Urbino. Reclam 2020

  • Wie erlebt man eigentlich Italien – seine Städte, seine Landschaften, seine Menschen, seine Kunstwerke? Genau von diesen besonderen Erlebnisformen erzählt Hanns-Josef Ortheil in dieser von ihm selbst ausgewählten und kommentierten Sammlung seiner Italien-Begegnungen aus den letzten fünfzig Jahren. Kein „Bildungsbuch“, sondern eines, das die Palette der Annäherungen eines Fremden an die italienischen Kulturen (Rom, Venedig, Sizilien, Adriaküste) entwirft: begeistert, hingerissen!

 Hanns-Josef Ortheil: Italienische Momente. btb 2020

  • Der Kulturhistoriker Volker Reinhardt hat die große Erzählung von Italiens Wegen hin zu den jeweils eigenen Kulturen seiner Stadtstaaten seit der Antike geschrieben. Religion, Philosophie, Literatur, Kunst, Musik, Architektur – alle Bereiche werden in eigenen Kapiteln anhand von zentralen Erscheinungsformen und Gestalten der Italianità vorgestellt. So wird man durch ein wunderbar weit gespanntes Panorama geführt und ist auf jeden Italien-Besuch auf ideale Weise vorbereitet, um das dort Gesehene mit dem Blick auf die größeren Zusammenhänge zu verstehen.

 Volker Reinhardt: Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens. C.H. Beck 2019

Letzte Geschenke 2 – Japan

(Viele Leserinnen und Leser haben mich um Empfehlungen für Buchgeschenke gebeten, bezogen auf Bücher anderer Autorinnen und Autoren – und auf meine eigenen Titel. Ich möchte beides miteinander verbinden – in Folge 2 geht es dabei um JAPAN!)

  • Saigyô (1118-1190) ist der Name eines buddhistischen Mönches, der als einer der ersten großen Lehrmeister und Wanderpoeten der japanischen Dichtung gilt. Die Sammlung der „Gedichte aus der Bergklause“ stellt sogenannte Waka zusammen – Kurzgedichte, die prägnante Bilder mit Einsichten in Lebensprozesse verbinden. Der Japanologe Ekkehard May hat sie nicht nur übersetzt, sondern vor allem präzise kommentiert und damit ihre Lektüre auch für westliche Leserinnen und Leser zugänglich gemacht. Ein Meditationsbuch in Coronazeiten!

Saigyô: Gedichte aus der Bergklause. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Ekkehard May. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung 2018

  • Matsuo Bashôs (1644-1694) Reisetagebuch „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“ ist ein Klassiker der japanischen Dichtung. Es erzählt von einer monatelangen Wanderung durch den Norden Japans, dem Besuch von Kultstätten, der Vertiefung des Wandernden in Naturräume und wird dadurch auch zu einem großen Projekt der Selbstbetrachtung. Anregend für alle, die gerne auf konzentrierte Weise zu Fuß unterwegs sind und dabei die Umgebung auch als spirituellen Raum zu lesen verstehen.

Matsuo Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Aus dem Japanischen übertragen sowie mit einer Einführung und Annotationen von G. S. Dombrady. Mit einem Nachwort von Ekkehard May. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung 2017 

  • Im Jahr 1801 kehrt der damals bereits zu einiger Berühmtheit gelangte Haiku-Dichter Issa (1763-1827) nach langer Abwesenheit in seine Heimatregionen zurück und trifft dort auf seinen alten, sterbenskranken Vater. Sein Buch über dessen „letzte Tage“ ist ein Tagebuch, konfuzianisch inspiriert und durchsetzt von Haikus, die sich der Einbeziehung der Sterbezonen widmen. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil porträtiert in einem langen, einleitenden Essay Issas Buch mit dem Blick auf unterschiedliche Sterbeszenarien der Weltliteratur.

Issa: Die letzten Tage meines Vaters. Übersetzt von G.S. Dombrady. Mit einem einleitenden Essay von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung 2020 

  • Seit vielen Jahren ermöglicht der Japanische Taschenkalender eine von Matsuo Bashô und seinen Schülern inszenierte Wanderung durch ein ganzes Jahr. Man erlebt die Jahreszeiten anhand der klassischen japanischen Haiku-Literatur, folgt den dazu gehörenden Riten und Festen und lernt die Haiku-Literatur mit Hilfe der Kommentare des Japanologen Ekkehard May tiefer und genauer verstehen. Die schönste Form, ein ganzes Jahr mit einem auch nach Osten gerichteten Blick und den davon ausgehenden elementaren Inspirationen zu verbringen!

Japanischer Taschenkalender für das Jahr 2021. Mit 52 Haiku von Matsuo Bashô und seinen Meisterschülern. Hrsg. von Imma Klemm. Übersetzt von Ekkehard May. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung 2020

 

Letzte Geschenke 1 – Paris

(Viele Leserinnen und Leser haben mich um Empfehlungen für Buchgeschenke gebeten, bezogen auf Bücher anderer Autorinnen und Autoren – und auf eigene Titel. Ich möchte beides miteinander verbinden – in Folge 1 geht es dabei um PARIS!)

  • Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud (geb. 1970) hat eine ganze Nacht allein im Pariser Picasso-Museum verbracht. Dort untersucht er, begleitet von einem erdachten islamistischen Gesprächspartner, die kulturellen Hintergründe von Picassos erotischen Bildern. Kein einschläfernder Museumsrundgang, sondern, ganz im Gegenteil: brillant formulierte Reflexionen über westliche Bilderwelten und darüber, wie sie von der arabischen Welt wahrgenommen werden.

 Kamel Daoud: Meine Nacht im Picasso-Museum. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer. Kiepenheuer & Witsch 2020

  • Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat seit den siebziger Jahren häufig in Paris gelebt und besonders das fünfte und sechste Pariser Arrondissement, das alte Zentrum der französischen Hauptstadt, detailliert erkundet. Sein Paris-Buch ist ein gutes Beispiel emphatischer Psychogeografie eines städtischen Raums – Straße für Straße werden die kulturellen Codes der Umgebungen entschlüsselt: Im Blick auf Literatur, Kunst, Mode, Film und Musik… – Ein Paris-Rausch!

Hanns-Josef Ortheil: Paris, links der Seine. Mit Fotografien von Lukas Ortheil. Insel-Verlag (Taschenbuch) 2019

  • Der Journalist Alfons Kaiser (geb. 1955) arbeitet seit vielen Jahren als Redakteur bei der FAZ – beste Voraussetzungen, um die erste große Biografie über Karl Lagerfeld zu schreiben. Kaiser hat viele Freunde und Bekannte befragt und ist mit Hilfe eines umfangreichen Quellenstudiums den Mythen um den wortgewandten Modeschöpfer nachgegangen. Nicht nur eine Biografie, sondern auch eine gut geschriebene Erzählung über einen Biotop, in dem ein norddeutsches Gewächs aufblühte und sich in mehrere parallele Existenzformen verwandelte.

Alfons Kaiser: Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris. C.H. Beck 2020

  • Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hat im Paris der Siebziger Jahre keinen französischen Intellektuellen so sehr bewundert und gelesen wie Roland Barthes. Jahrzehnte später hat er ihm eine Hommage gewidmet, indem er ihn auf seinen einsamen, nächtlichen Spaziergängen durch Paris verfolgt. Die Lebensgeschichte dieses Philosophen entwickelt sich dabei wie ein intimer Film, und von den noch heute prägenden Milieus von Paris wird so erzählt, dass man sofort in den Cafés rund um Saint-Germain-des-Prés Platz nehmen möchte.

 Hanns-Josef Ortheil: Die Pariser Abende des Roland Barthes. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung 2017

Ein ganzes Jahr

Wie kaum ein anderes Jahr wird uns 2020 in Erinnerung bleiben – und wie kaum ein anderes sehr detailliert. Die Pandemie hat seine Rhythmen und Bewegungen geprägt und uns zu Reaktionen gezwungen. Mit dem Blick auf völlig unerwartete und laufend gesteigerte  Anforderungen haben wir uns immer neu verhalten und ausrichten müssen.

Ein ganzes Jahr unter hochgradig zugespitzten, fast täglichen Informationsströmen…, nach Orientierungen suchend, faktischen wie lebenserhaltend psychischen…

Und weil das so ist und immer noch anhält – ist für mich Iiro Rantalas gerade erschienene CD My Finnish Calendar eines der packendsten und bewegendsten Alben des Jahres. Die letzten zwölf Monate laufen beim Hören vor meinem inneren Auge noch einmal vorbei, transponiert nach Finnland…, und jeder Monat hat seine eigene Nummer…

Hier die Solo-Meditation über den Monat Dezember, auch zum Mitlesen:

 

Sich genau zu erinnern ist ein schönes Geschenk

(Am 18.12.2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Christine und Toni aus Köln haben zwei erwachsene Töchter, die mit ihren Familien in Berlin leben und die Eltern über Weihnachten aus den bekannten Gründen nicht besuchen. Natürlich könnte man skypen und miteinander plaudern, das befriedigt mein Freundespaar aber nicht.

Toni kommt es so vor, als spielte er die Oparolle in einem schlechten Film, in dem weder Ambiente noch Beleuchtung noch der Ton stimmen. Der herumstotternde Typ mit dem verkrampften Lächeln und den schillernden Bartstoppeln, das bin ich doch gar nicht, behauptet er. Und Christine täte es richtiggehend weh, wenn im Bildhintergrund weihnachtliche Dekorationen zu sehen wären. Ihr Anblick würde sie an lauter schöne Familienmomente erinnern, die es diesmal leider nicht geben wird.

Welche schönen Momente?, habe ich extra naiv gefragt. Christine erzählte, wie früher alle auf ihre jeweils eigene Weise geholfen hätten, die Wohnung zu schmücken. Und dass sie mit ihrer ältesten Tochter das Essen gekocht und mit der jüngeren Kuchen und Plätzchen gebacken habe. Streng getrennt, weil die eine eben gern koche und die andere lieber backe. Ich fragte nach, was denn gekocht und gebacken und wie genau die Räume vom wem geschmückt worden seien. Und mein Freundespaar geriet immer mehr ins Erzählen, als schrieben sie an einem Drehbuch.

Mir gefielen ihre Weihnachtsgeschichten, es waren wahrhaftig Szenen schöner Momente, ohne Kitsch, mit dem konkreten Blick auf einzelne Menschen und ihre Vorlieben. Ich würde das aufschreiben, sagte ich – und zwar knapp und ohne erzählerisches Drumrum. Christine und Toni schauten mich an: Aufschreiben?! Im Ernst?! – Ja, sagte ich, diese ganz alltäglichen Weihnachtsgeschichten sind Euer Weihnachtsgeschenk, für jedes Familienmitglied schreibt ihr eigene. So bekommen alle ein paar Seiten, die indirekt davon erzählen, wie ihr Eure Liebsten seht und was ihr für sie empfindet.

Toni fand Schreiben anstrengend und konnte es sich nicht recht vorstellen, Christine aber wollte Beispiele hören. Es ist ganz leicht, sagte ich, folgt einfach einer guten Idee des amerikanischen Schriftstellers Joe Brainard. Er beginnt jeden Satz mit der Formel „Ich erinnere mich…“ – und macht dann mit dem genauen Fixieren der Erinnerung weiter. Etwa so: Ich erinnere mich, dass Jochen den Baum immer nur weit unten und immer nur mit den roten Kugeln geschmückt hat. Oder: Ich erinnere mich, dass Ursel besonders Quittengelee mochte und oft heimlich davon in der Vorratskammer genascht hat. Schreibt diese Erinnerungen mit Zeilenabstand untereinander und verschickt diese handgeschriebenen Listen mit Weihnachtsbriefmarken der Post so bald wie möglich.

Handgeschrieben?! Per Post?!, fragte Toni erstaunt. Ja, antwortete ich, auch Elke Büdenbender, die Frau unseres Bundespräsidenten, hat das gerade empfohlen. Ich selbst empfehle außerdem das Markenset Frohes Fest! der Deutschen Post: Zehn Briefumschläge, zehn Briefmarken à 0,80 Euro und 5×2 Grußkarten – alles zusammen für 14,68 Euro! Schreiben ist nämlich nachhaltiger als Skypen, und sich genau zu erinnern ist das Nachhaltigste überhaupt. Christine und Toni schauten mich an, als wäre ich eine etwas unheimliche, sehr ferne adventliche Erscheinung. Um sie zu beruhigen, sagte ich schließlich: Es soll auch ein Markenset 50 Jahre Tatort geben, vielleicht etwas für große oder kleine Kinder, die Krimis besonders mögen…

Mein Beethoven 3

(In dieser Woche läuft die fünfteilige Folge Mein Beethoven in SWR 2, jeweils morgens von 9-10 Uhr. Hier noch einmal ein Link für alle Folgen:

https://www.swr.de/swr2/musik-klassik/mein-beethoven-1-swr2-musikstunde-2020-12-14-100.html

Judith von Sternburg, Redakteurin der „Frankfurter Rundschau“, hat mich um ein Interview gebeten. Es ist heute erschienen.)

Wann haben Sie Beethoven kennengelernt?

Als kleiner Bub in den fünfziger Jahren. Mit meiner Mutter hörte ich damals Musik im Radio: Haydn, Mozart und Juliette Greco. Bei Beethoven überfiel meine Mutter ein Gruseln. So bekam ich seine Klaviersonaten und Symphonien erst in Konzerten mit meinem Vater zu hören. Nach jedem Konzert war ich wie hypnotisiert, die Musik ging mir nicht mehr aus dem Kopf, es war jedes Mal wie ein Schock.

Haben Sie seine Stücke auch auf dem Klavier gespielt?

Noch lange nicht, meine Lehrerinnen meinten, Beethoven sei nichts für klavierübende Kinder. Ich übte Czerny, spielte Sonatinen von Mozart und Schumanns „Album für die Jugend“ – das war weder dunkel noch gefährlich.

Und damit gaben Sie sich zufrieden?

Keinen Moment. Ich hatte den Beethoven-Virus eingefangen und wollte alles über ihn wissen. In meinem Vater hatte ich einen ebenfalls infizierten Begleiter. Von Köln aus fuhren wir oft nach Bonn und streunten zusammen durch Beethovens Geburtshaus. Das war eine wunderbare Genie-Puppenstube: Noten, Bilder und vor allem Instrumente und Gegenstände aus Beethovens Leben. Da konkretisierten sich die Eindrücke und entwarfen eine Gestalt.

Und wie sah die aus?

Unheimlich! Ein kräftiger, muskulöser junger Mann mit dunklem Teint, der Violine, Bratsche und Orgel spielte, erste Kompositionen schrieb und täglich stundenlang über das Klavier herfiel. Und das nicht nur übend, sondern auch improvisierend. Das mochten seine Lehrer gar nicht, ich verstand aber gut, wie verlockend gerade das Improvisieren war. Es bedeutete Freiheit – gegenüber dem Übestress und dem Gehorsam, sich an fremde Noten zu halten.

Haben Sie auch improvisiert?

Und wie! Nach dem Üben wurde improvisiert. Die gesamte Tastatur wollte bedient werden – das waren kleine Orgien mit waghalsigen Fingerläufen und verrückten Akkorden, heute denke ich, es war eine Art Free Jazz, ohne dass ich jemals Jazz gehört hatte.

Beethoven kam Ihnen näher?

Es war wie eine Verzauberung. Den stärksten Anteil daran hatte die Lebendmaske Beethovens, die der Bildhauer Franz Klein ihm abgenommen hatte. Das Gesicht wird eingegipst, Luft erhält man nur noch durch zwei Röhren in den Nasenlöchern. Mein Vater schenkte mir eine Kopie, sie wurde, um meine Mutter nicht zu erschrecken, in einem Geheimfach deponiert. Alle paar Tage nahm ich sie heimlich heraus und hielt dieses bitterernste, brütend schwere Gesicht mit den geschlossenen Augen in den Händen.

Hat die Maske sie verfolgt?

Ich begann, von Beethoven zu träumen und sah einen vitalen, energiegeladenen Mann, der in der freien Natur brummend und entrückt unterwegs war und immer ein Skizzenbuch dabei hatte. So hatte ich ihn in einem Spielfim wie ein Besessener agieren gesehen. In seinen Wohnungen dagegen sah es chaotisch aus – wie in einer Wohngemeinschaft mit Gespenstern.

Haben Sie diese Wohnungen auch aufgesucht?

Ja, nach Bonn war Wien dran! In den Ferien fuhr ich mit meinem Vater hin. Wir entwarfen einen Beethoven-Parcours durch die ganze Stadt, über dreißigmal soll er umgezogen sein. Leider waren die Wohnungen bis auf wenige Ausnahmen nicht zu besichtigen. So kauften wir in den Trafiks der Stadt lauter Postkarten mit Ansichten seiner Zimmer und Porträts, die Zeitgenossen gemalt hatten. Deren Berichte lasen wir, und meine Träume wurden noch intensiver. Es gab eine Standardszene: Ich saß an einem Flügel, Beethoven stand am Fenster und schaute hinaus. Wir schwiegen beide. Ich war sein Schüler und sollte etwas spielen, aber ich wusste nicht was…

Eine Urszene der Überforderung…

Damals spielte ich lediglich einige seiner angeblich einfachen Variationen, etwa die über ein Schweizerlied. Sie waren Studien des Improvisierens, und ich mochte sie sehr – aber ich nahm an, ich würde den Meister mit derart einfachen Stücken verärgern.

Er hat nie etwas gesagt?

Schließlich doch. Ich hatte den Bericht eines Schülers gelesen, der zum Unterricht erschienen war. Beethoven hatte gesagt: „Wir wollen heute nicht Unterricht nehmen, wir wollen lieber zusammen spazieren gehen…“ Etwas Ähnliches sagte er dann auch zu mir. Wir verließen seine Wohnung und gingen spazieren. In Wien gab es einen berühmten Beethoven-Gang, draußen, vor den früheren Toren der Stadt. In Nussdorf und Heiligenstadt. Den ging ich mit meinem Vater und starrte unterwegs auf die Postkarten, die den Spaziergänger Beethoven mit seinem berühmten Spazierstock und den Händen auf dem Rücken zeigten. Es war grandios, großes Kino.

Sie hätten ein Drehbuch schreiben können…

Ja, sofort! In Wien begriff ich erst, dass es nicht nur den komponierenden, sondern auch den extrem schreibenden Beethoven gegeben hatte: Briefe, Tagebücher, Notizhefte – und vor allem, die Sensation: die Konversationshefte! Als er ertaubte, hatte er sich auf diese Weise mit den Freunden verständigt. Die Konversation wurde schriftlich geführt, so dass wir die früheren Unterhaltungen bis ins letzte Detail verfolgen können. Welche gesellschaftliche Themen besprochen, wie Konzerte vorbereitet wurden, sogar, was gegessen und getrunken wurde, wissen wir, als wären wir dabei gewesen.

Kümmerte Beethoven sich auch darum?

Er notierte sogar viele Details aus Kochbüchern und gab seinen Haushälterinnen konkrete Anweisungen, was gekocht werden sollte. Rindfleisch mit Sauerampfer, Geflügel jeder Art, Wild, Karpfen und Hecht, weiße Rüben, viel Grünes. In einem Wiener Antiquariat kauften mein Vater und ich eines der Kochbücher aus dieser Zeit, mit, wie es hieß, 1619 Kochregeln für Fleisch- und Festtage. Damals lernte ich die österreichische Küche kennen: Kaspressknödelsuppe, Fisoleneintopf, Krautfleckerln – ich notierte das Vokabular wie das einer Fremdsprache.

Hat Beethoven Sie auch in diesem Jubiläumsjahr verfolgt?

Ihm zu Ehren war ich zu Anfang des Jahres wieder in seinem neu eingerichteten Geburtshaus. In Bonn habe ich mir vor den bitteren Coronatagen auch die große Ausstellung in der Bundeskunsthalle angeschaut. Während des Jahres habe ich fast all seine Stücke wieder gehört. Weniger die bekannten, eher die selten oder gar nicht gespielten.

Die gibt es?

Beethovens Gesamtwerk wirkt heute wie ein großes, ungeheuer reiches und verblüffendes Labor. Es gibt die Stücke, denen er eine Opuszahl gab und damit in seinen Kanon aufnahm – und es gibt die vielen Kompositionen ohne eine solche Zahl, die gleichsam Ableger oder Zulieferer zu den zentralen Werken waren. Diese Stücke bieten die starken Überraschungen und zeigen den experimentierenden Beethoven. Lieder, Militär- und Tanzmusiken, Bagatellen, Variationen oder etwas für vier Posaunen oder zwei Flöten – fantastisch skurril!

Sie sind Beethoven also treu geblieben.

Treue war ihm besonders wichtig. Treue, Aufrichtigkeit, Offenheit und Zuwendung. Wen er in sein Herz geschlossen hatte, dem widmete er sich ganz und gar. Viele seiner Briefe sind ekstatische Deklamationen von Freundschaft und Liebe, besonders die, die er Freundinnen schrieb. Er war ein bedingungslos Liebender, der aber wusste, dass seine Lieben an Standesunterschieden scheiterten.

Hat er darunter gelitten?

Er benennt dieses Leiden, ich bin mir aber nicht sicher, ob er sich nicht schon früh als einen letztlich allein lebenden, nur der Musik dienenden Komponisten entworfen hatte. Er spricht oft von diesem Dienst, mit heftigem Pathos. Er fühlte sich der großen Kunst verpflichtet, und er verstand sich als leidenschaftlichen Enthusiasten, der die Empfindungen seiner Zuhörer an extreme Grenzen führen wollte.

Kann man sagen, dass Beethoven sie geprägt hat?

Die Hörerlebnisse waren die stärksten meines Lebens. Bis heute ist das so. Wenn ich einmal eine Weile abstinent war, gerate ich beim erneuten Hören wieder in die bekannten Dunkelzonen. Als befände man sich in planetarisch weit gedachten Räumen und Landschaften, als kreiste man, isoliert und beethovenabhängig, im Sternenuniversum. Der Übergang in der „Waldsteinsonate“ vom zweiten zum dritten Satz – oder wenn die Streicher im vierten Satz der 9. Symphonie zum ersten Mal die Melodie von „Freude, schöner Götterfunken“ intonieren – mein Gott, das bewegt mich so stark, dass ich sprachlos werde.

Darüber haben Sie bisher aber nie geschrieben, oder?

Nein, wegen einer starken Scheu habe ich vieles notiert, aber nicht veröffentlicht. Meine Notizen ergäben bestimmt ein Buch, in dem ich von meinen Hörerlebnissen und „meinem Beethoven“ berichten würde. Das wäre die Erzählung einer intensiven Annäherung, von den Kinderzeiten bis jetzt.

In SWR 2 werden Sie vom 14.12. bis zum 18.12. fünf Tage lang in der „SWR Musikstunde“ morgens vom 9 bis 10 Uhr mit Ausschnitten aus dieser Erzählung zu hören sein…

Ulla Zierau, die Redakteurin, hat mich zu Beginn des Jahres eingeladen, diese Serie zu gestalten. Ich habe sofort zugesagt. Jetzt oder nie! – habe ich mir gesagt, in echt Beethovenschem Ton, als ginge es um alles oder nichts.

Letzte Frage: Erinnern Sie sich noch an eine Ihrer Beethoven-Interpretationen auf dem Klavier?

O ja! Es war ein Konzertauftritt mit einer seiner letzten Sonaten, der in As-Dur, opus 110. Ich war siebzehn, als ich das gespielt habe. Die Sonate endet mit einer Großen Fuge. Hinterher saß ich in der Garderobe und kämpfte gegen die Tränen. Es war die verrückteste Verausgabung, die ich je erlebt habe.