Schleichwege zur Klassik

Ich lese gerade das Buch Schleichwege zur Klassik. Musik aus fünf Jahrhunderten neu entdecken“ von Gabriel Yoran (Insel-Verlag 2024).

Yorans Eltern spielten beide in einem Symphonieorchester, so dass er im Umkreis von klassischer Musik aufwuchs. Er hätte den Eltern folgen können, tat es aber nicht, nach sieben Jahren Klavierunterricht gab er auf. Inzwischen bereut er es und versucht, sich auf anderen Wegen der Klassik zu nähern. Er will diese Musik für sich neu entdecken, ungezwungen und aufgeschlossen, als emphatischer Hörer, frei assoziierend, ohne ausgetretenen Interpretationspfaden zu folgen.

Deshalb offeriert er „Schleichwege“ – und das meint: Er setzt bei seinen Leserinnen und Lesern keine großen Kenntnisse voraus und ignoriert meist die bekannten Hitnummern des Betriebs.

Auf etwas über einhundertdreißig Seiten serviert Gabriel Yoran (geb. 1978) vielmehr Klangproben als Kostproben, was auch deshalb so gut gelingt, weil die Stücke anhand von QR-Codes abrufbar sind. Man braucht also nicht lange im Netz zu suchen, sondern setzt ein Smartphone ein, ruft den Code ab – und schon läuft auf Youtube das jeweilige Stück.

Oft sind es, wie der Untertitel verspricht, veritable „Entdeckungen“. Man wird zu hell aufleuchtenden Besonderheiten geführt – dem Klang eines Instruments, der Ausbreitung einer Stimmung, einer im Hintergrund versteckten Erzählung.

„Serviert“ wird also kein „Bildungsgut“, in das man sich stundenlang nachdenklich vertiefen müsste. „Schleichwege“ wollen nicht belehren, sondern machen einfach nur Spaß und lassen Stück für Stück aufhorchen. So könnten auch manche zur Klassik finden, die bisher dachten, Klassik sei etwas Überholtes und mache nicht das geringste Vergnügen. Bei Gabriel Yoran macht sie das, weil sie unverkrampft, locker und sehr gegenwärtig präsentiert wird.

Carpaccio und Bellini in Stuttgart

Zuletzt habe ich eine Fotografie studiert, die mich nach Venedig lockte. Und vor kurzem habe ich während einer Reise nach Hildesheim die Skulptur einer Tintenfassmadonna im Hildesheimer Dom aufgesucht.

Nun führe ich beide Linien zusammen, indem ich in eine Ausstellung der Stuttgarter Staatsgalerie gehe, die venezanische Bilder der Frührenaissance zeigt.

https://www.staatsgalerie.de/de/ausstellungen/aktuell/carpaccio-bellini-und-fruehrenaissance-venedig

Auf einem Bild von Vittore Carpaccio (1465-1525) ist die Gottesmutter als lesende Frau abgebildet. Sie vertieft sich in einen alten Text – was in meinen Augen eine Tiefenergänzung zur Hildesheimer Madonna darstellt. Lesen, schreiben und schreiben lehren erscheinen mir als eine selten so wahrgenommene Trias, die das Marienleben mit prägt.

Venedig im Neuen Jahr – Studium einer Fotografie

Zu den „guten Vorsätzen“ für das Neue Jahr 2025 gehört auch, Venedig möglichst bald und mehrmals in diesem Jahr aufzusuchen. Das habe ich meinen dort lebenden Freundinnen und Freunden versprochen.

Eine von ihnen schickte mir eine Fotografie, die aus vielerlei Gründen etwas stark Verlockendes und Einladendes hat:

Das Foto präsentiert nicht die auftrumpfenden Seiten von Venedig. Es zeigt weder ein Panorama noch die bekannten pittoresken Details. Stattdessen inszeniert es einen Ausschnitt – und den als Durchblick durch eine der engen Gassen in die imaginäre Weite.

Dort schimmern einige Fassaden auf der anderen Seite jenseits der Wasserstraße (Häuser auf der Giudecca sind zu erkennen).

Aufgefangen und gehalten wird der Blick durch die Jugendstillaterne, deren drei Lampen sich aus einem helleren Lichtkegel gegen einen großen, hingefächerten, dunkleren aus der Höhe erheben.

Die Anpflanzung eines mageren Baumes winkt dem zu.

Das Foto flüstert: Suche nach diesen schmalen Wegen, die eine verborgene Weite inszenieren und mehrere Zeitzonen Venedigs unauffällig, aber „einleuchtend“ miteinander verbinden.

Die „Verführung“ ist also wieder da … – und akut vorhanden.

Keith Jarrett 1975 in Köln

Kurze, aber eindringliche Erinnerung: Heute vor fünfzig Jahren setzte sich der noch nicht dreißigjährige Jazz Pianist Keith Jarrett an einen Flügel im Kölner Schauspielhaus und improvisierte über eine Stunde lang. Das Solo-Album wurde später als The Köln Concert eines der erfolgreichsten Alben der Musikgeschichte.

Hier die Coda, der Abgesang, verbunden mit guten Wünschen für das bevorstehende Wochenende, in dessen Verlauf man sich das ganze Concert anhören könnte …

Römische Wintermahlzeiten

 

In Rom haben die Wintermahlzeiten einen eigenen Charakter, denn zu kaum einer Jahreszeit gibt sich die römische Küche derart unbeirrt, denkt nicht an leichte Kost, sondern orientiert sich an dem, was früher in kalten Zeiten in Nachbarschaft der alten Schlachthöfe gegessen wurde.

Schlachthöfe gab und gibt es im Viertel („quinto quarto“) TESTACCIO, wo mehrere Restaurants noch immer darum wetteifern, wer die schwere Kost auf die herkömmlichste Weise zelebriert.

Zunächst speist man Ravioli, aber nicht gefüllt mit Ricotta und Spinat (wie oft üblich), sondern gefüllt mit Speck und Cicoria und übersät mit einem besonders kräftigen Pecorino.

Darauf folgt Coratella, ein Ragout aus lauter Innereien (Leber, Nieren, Milz, Bries, Herz),  mit Möhren, Zwiebeln und Knoblauch.

Rotwein dazu, vielleicht einen Cesanese?

Lassen wir einen Restaurantbesitzer der alten Schule zu Wort kommen, der in Testaccio das Restaurant Checchino betreibt – dann erfahren wir noch mehr.

Winterlicher Gang

Während des winterlichen Gangs durch das farbenarme Gelände in den nahen Umgebungen notiert das Auge die verhaltenen Nuancen der pflanzlichen Erscheinungen.

Die hellgrauen Wollposter der rankenden Reben.

Das zurückgenommene Wintergrün des Efeus mit seinen schwarzen Winterbeeren.

Das in der Sonne triumphierende Strahlgrün des Kirschlorbeers.

Das hilflos ausgebreitete Schwachgrün der abwartenden Königskerze –

und die erste Andeutung der frühlingshaften Wende beim zartgelb leuchtenden Baumfreund aus dem fernen Osten, haikubereit.

Hildesheimer Wege 2

„Salve, mein Sohn“, hatte mich Rainald van Dassel in Hildesheim begrüßt, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich hatte geantwortet und gesagt, dass ich zunächst den altägyptischen Schreiber Heti im Roemer- und Pelizaeus-Museum aufsuchen werde. Das hatte ich dann auch getan.

Am nächsten Tag aber ging ich in den Hildesheimer Dom. Dort befand sich an einem Pfeiler die zweite „Ikone“ des Hildesheimer Schreibens, die ich in meinem Buch „Nach allen Regel der Kunst, Schreiben lernen und lehren“ auf den Seiten 165ff. u.a. so beschrieben habe:

„Es ist eine gotische Madonnenfigur aus Holz, blau gewandet, mit großer, goldener Krone, die dem nackten Jesusknaben auf dem linken Arm einen Sitzplatz bietet.

Einzigartig an dieser Skultur ist das Tintenfass in der rechten Hand der Madonna. Der Jesusknabe hält eine Schreibfeder in Händen, die anscheinend dazu bestimmt ist, die Buchrolle auf seinen Knien zu beschriften. Gleich wird er die Feder in das Tintenfass tauchen, das ihm seine Mutter hinhält. So erscheint die Tintenfassmadonna wie eine zeichenhafte, vorwegnehmende Vorausdeutung auf eine Einweisung in Schreiben und Schrift.“

Mit den Jahrhunderten wurde oft vergessen oder vernachlässigt, dass die Gestalt der Gottesmutter Maria oft als Leserin (in der Bibel), sehr selten aber auch als Schreiberin dargestellt wurde. Hier ist sie nicht nur das, sondern auch eine Lehrerin, die Lehrerin der Kunst, Buchstaben zu malen und auf einem Papier zu ordnen.

So gesehen, ist sie das christliche Pendant zu Heti, dem männlichen altägyptischen Schreiber, der übrigens von seinem Vater (als Lehrer) in die Kunst des Schreibens eingeführt wurde.

In der kommenden Woche

In der kommenden Woche gibt es zwei Veranstaltungen und Lesungen, auf die ich gern aufmerksam machen möchte, weil ich weiß, dass viele Leserinnen und Leser erst durch diesen Blog davon erfahren.

Am Donnerstag, 23. Januar 2025, stelle ich um 19 Uhr im Kulturwerk von Wissen/Sieg mein neues Buch „Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren“ vor.

https://kulturwerkwissen.chayns.site/

Und am Freitag, 24. Januar 2025, lese ich um 20.00 Uhr in der Kölner VENTANA-Kirche aus mehreren, in Italien spielenden Büchern. In den gelesenen Passagen geht es darum, wie man im verführerischen Süden ankommt und die starken Erlebnisse der Ankunft in den Versuch eines gelingenden Lebens umsetzt. Darauf antworten die Cellistinnen Birgit Heinemann und Uta Schlichtig (Violoncello à deux) mit von ihnen ausgewählter Musik. Ein Abend im Zeichen von „La dolce vita“.

https://ventana.koeln/#inconcert

Zu beiden Veranstaltungen lade ich herzlich ein und freue mich über guten Besuch.

          Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich ein vitales Wochenende, verbunden mit Musik von Niccolò Paganini.

Hildesheimer Wege

„Salve, mein Sohn“, begrüßte mich Rainald van Dassel in Hildesheim, „wohin führen Dich Deine Wege?“ Ich dachte kurz nach und antwortete: „Ins Roemer- und Pelizaeus-Museum, und dort in die altägyptische Sammlung – zu einem guten Bekannten.“

Es ist der Schreiber Heti, den ich in meinem Buch Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und Schreiben lehren als eine „Ikone des Schreibens“ vorgestellt habe (S. 86ff.)

Die Figur des sitzenden Schreibers stammt aus der Zeit um 2300 v.Chr. und zeigt ein Mitglied der Oberschicht in einer charakteristischen Sitzpose mit untergeschlagenen Beinen. Heti hält eine Papyrusrolle in den Händen und ist dabei, sie zu beschriften. Der Schreibpinsel in der rechten Hand ist verloren gegangen, mit diesem Binsenstengel würde er das nach dem Eintauchen des Pinselns in schwarze oder rote Tinte tun.

Die Statue hat mich immer stark fasziniert, in Hildesheim habe ich die jeweiligen Erstsemester der Schreibstudiengänge zu ihr geführt und darum gebeten, anhand dieser Figur über das Schreiben als Tätigkeit und Geste nachzudenken.

Was man sofort erkennt: Der starke Grad von Konzentration. Die Strenge des Ausdrucks, die vom Körper stillhalten und Ruhe verlangt. Die meditative Versenkung in den Schreibakt – es gibt nichts darüber hinaus, das Schreiben beansprucht alle Kräfte, die inneren wie die äußeren.

So gesehen, ist Heti eine Ikone, die durch die Jahrtausende zentrale Momente des Schreibens als Ausdruck bündelt und festhält.