Das Hörbuch

In diesen Tagen sitze ich viele Stunden in einem schalldichten Studio. Es ist dunkel, schwere Vorhänge vor den Fenstern, ein kreisrunder Tisch mit einer Lampe, etwas Wasser – und das Leseexemplar meines Romans „Die Mittelmeerreise“, der in wenigen Wochen erscheint. Das Mikrofon ist kaum zwanzig Zentimeter von meinem Mund entfernt, der Abstand darf sich nicht verändern, wie ich überhaupt darauf achten muss, mich nicht zu stark zu bewegen. Ich lese den Text des Romans für ein Hörbuch ein, im Nebenraum sitzt eine Regisseurin, der kein Versprecher oder Aussetzer entgeht.

Die Dunkelheit, die Isolation, die stundenlange Versenkung in den Text haben etwas Magisches. Die Welt draußen ist gelöscht, und vor meinem inneren Auge erscheinen die Figuren des Textes, sprechen, debattieren, bewegen sich auf einem Frachtschiff, betreten den Boden Griechenlands. Ich höre meine Stimme – es ist die Schiffe des Sechzehnjährigen, der ich einmal war. „Komm näher“, flüstert sie, „begleite uns, reihe Dich ein …“

 

 

Neue Mitbewohner

Ich habe ein Bild geerbt. Jetzt steht es neben meinem Schreibtisch auf dem Boden und wartet darauf, an einer Wand platziert zu werden. Es ist ein altes Bild mit zwei Figuren, einer Frau, einem Mann. Beide sind in bester Laune und feiern gerade, was das Zeug hält. Wenn ich das Zimmer betrete, lärmen sie noch mehr drauflos, und ich setze mich zu ihnen. Die Frau strahlt mich an, der Mann haut mir auf die Schulter. Ich hole uns etwas zu trinken, und wir sprechen eine fremde, nur für uns Drei erfundene Sprache. Ich überlege, ob es sich bei dem Bild wirklich um ein Bild im normalen Sinn handelt. Nein, ich glaube eigentlich nicht. Die beiden Figuren sind derart lebendig, dass ich ein wenig Angst um mich selbst habe. Unerwartet und plötzlich sind sie in mein Leben getreten und wollen bei mir wohnen. Wie wird sich das gestalten? Noch habe ich keine Ahnung, nur Befürchtungen vielfacher Art.

Das Glück des Lesens

Die Journalistin Sieglinde Geisel hat mit dem Literaturwissenschaftler Peter von Matt ein langes Interview geführt (im Netz nachzulesen in tell, dem Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft), in dem sie dem genialen Textinterpreten Fragen zum Thema „Lesen“ gestellt hat. Entstanden ist daraus ein packender Monolog, in dem Peter von Matt für seine Versionen der Lektüre wirbt und deren Hintergründe erklärt.

Anders als viele Literaturwissenschaftler, die mit den gängigen Themen (Ein Autor, ein Werk, eine Epoche, ein methodisches Problem etc.) arbeiten, interessieren Peter von Matt Konflikte, die einen Menschen in einer bestimmten Phase seines Lebens zentral (und bis hin zur Selbstaufgabe) beschäftigen können. Will ich wirklich mit Gerda zusammenleben? Wo will ich das tun? Wie unterstützt/stört/zerstört meine berufliche Tätigkeit das mögliche Zusammenleben?  – das wäre ein simples Beispiel (das ich mir selbst ausgedacht habe).

Peter von Matt liest Texte vergleichend auf solche Konflikte hin und untersucht das meist verborgene Wissen, das sie zu solchen Konfliktfragen enthalten. Darüber werden sie gleichsam zu Beratern, die einen Konflikt entwerfen, deuten, umpolen, neu formieren. Der Interpret gerät mit ihnen ins Gespräch, deutet selbst, debattiert, entnimmt ihnen weniger „Strukturen“ als „Lebenscluster“, mit deren Hilfe sich das individuelle Dasein sozial gestaltet. So entstehen ein „Aussehen“ (von Figuren), ein Handeln, ein Verweilen, ein Forcieren des Konflikts, der nun wiederum andere Figuren mit einbezieht und berührt.

Liest man die Bücher des Lebensdeuters Peter von Matt, entdeckt man eine aktuelle und hochgradig reizvolle Form von „Literaturwissenschaft“. Nicht das interpretierende Sich-Abstrampeln in Begriffskäfigen, sondern das nachfragende Sinnieren darüber, was unter den Oberflächen der Aktionen an Konfliktpotential steckt.

Von Matt spricht von dem „Begeisterungszustand“, in den ihn das Lesen oft versetzt. Das Interview mit Sieglinde Geisel vermittelt nicht nur viel davon, sondern hat mich selbst in einen solchen „Begeisterungszustand“ versetzt. Ich las es in einem Café, während ich auf einen Freund wartete. „Hoffentlich verspätet er sich“, dachte ich – und als hätte Peter von Matts Zauber sogar noch über das Interview hinausgewirkt, verspätete mein Freund sich wahrhaftig. „Ist was?“ fragte er, als er meine Erregung spürte. – „Ja, da war gerade was“, antwortete ich, „ich habe eben ein ganz vorzügliches Interview gelesen …“

Mein literarischer Herbst 2018 – Lesungen

Morgen beginnt mein literarischer Herbst 2018.

Hier die erste Staffel meiner Lesungen:

18.September 2018, Köln, Agnes-Kirche, 20 Uhr

19.September 2018, Siegburg, Servatiushaus, 19.30 Uhr

20.September 2018, Bonn, Kath. Familienbildungsstätte, Lennéstraße 5, 20 Uhr

27. September 2018, Darmstadt, Stadtkirche Darmstadt, 19.30 Uhr

02.Oktober 2018, Würzburg, Stadtbücherei, 20 Uhr

 

Große Ferien 29 – Coda 3

Noch etwas mehr als hundert Kilometer …, dann münden die großen Ferien in einer Ankunft. Seit Wochen habe ich keine deutschen Zeitungen mehr gelesen, keine deutschen Nachrichtensender gehört, die „deutschen Themen“ komplett ignoriert. Jetzt, so kurz vor der Rückkehr, macht sich das alles wieder unangenehm breit. Selbst die Sportmeldungen hinterlassen einen leichten, beklemmenden Ekel. Am meisten aber Nachrichten über Menschen, die sich im öffentlichen Raum fortlaufend aufspielen. Es kostet richtiggehend Anstrengungen, dem zu entgehen und sich in die Büsche zu schlagen. Aber es lohnt sich.

Andererseits gibt es auch die schönen Seiten der Ankunft. Das Wiedererkennen. Die erneuerten Kontakte zu den alltäglich treuen Dingen, die sich seit Jahren an ein und demselben Ort befinden. Das hat etwas Tröstliches, als wäre die Erde kaum in Bewegung.

Und die alten Freunde? Tja, mit wem nehme ich wieder (und wann?) Kontakt auf? Keine leichte Frage. Eine Distanz von ein paar Wochen tut einer Freundschaft meistens sehr gut. Was aber, wenn die Freunde sich so verändert haben, dass die Freundschaft leiden oder Kratzer bekommen könnte?

In der Kindheit passierte das gar nicht so selten. Selbst beste Freunde erschienen nach einem für Wochen abgebrochenen Kontakt plötzlich wie sehr fremde Gestalten, die längst auf anderen Fährten unterwegs waren und einen seltsam veränderten Geschmack ausgebildet hatten. Man musste sich erst wieder aneinander gewöhnen – und manchmal klappte das nicht mehr, und die Freundschaft ging ein für alle Mal in die Brüche.

Herrgott, ich sollte nicht mit so dunklen Gedanken zurückkehren. Vielleicht hat ausgerechnet P mir eine Blume vor die Haustür gestellt, die ich jetzt den Herbst hindurch zum Blühen animieren darf. K könnte mir ihre neue CD in den Briefkasten geworfen haben. Ganz zu schweigen von A, die vielleicht einen Kuchen oder … – ich höre hier lieber mal auf. Morgen bin ich wieder zu Hause.

 

Große Ferien 28 – Coda 2

Wie fährt man (nach langem Aufenthalt in fernen Gefilden) „zurück“? Fährt man beim „Zurückfahren“ heim? Fährt man „nach Hause“? Und wie macht man das nun genau? Am Stück? In zig Stunden, mit kurzen Pausen? Oder in kleinen Etappen?

Ich fahre nicht heim. Ich fahre höchstens Richtung Zuhause. Während ich fahre, mache ich Halt, immer wieder, geleitet vom Zufall. Ein Ortsname, ein Flüsschen oder ein Stand mit frischen Pfifferlingen am Wegrand. Frische Pfifferlinge! In den fernen Gefilden gab es die nicht, beinahe hätte ich schon vergessen, dass es überhaupt welche gibt. Jetzt aber gibt es sie wieder, sogar gebraten, mit ihnen ist der Herbst plötzlich da. Und Radieschen! Ich mag doch Radieschen so sehr, jetzt esse ich gleich ein ganzes Rudel.

Mit jedem gefahrenen Kilometer melden sich die früher vertrauten Farben, Gerüche und Worte – wie neu! Das ist die schöne Seite der „Rückfahrt“. Ich dehne sie hinaus, so lange wie möglich. Übernachtungen, wenn eine Verlockung zu stark wird. Den Verlockungen unbedingt folgen. Noch mehr Pfifferlinge, dazu etwas Reh oder Hirsch – und frischen Kürbis.

Gesprochen wird um mich herum jetzt sehr langsam. Satz für Satz. Stopp. Noch eine Pause gefällig? Oder ein Seufzer? Vor Tagen redete man mit mir noch ununterbrochen. Im Radio eine Sendung über Beethovens Siebente. Ach, die vielen Synkopen. Soll ich das hören? Soll ich jetzt wieder Beethoven folgen? Die Sender der fernen Gefilde erreichen mich nicht mehr.

Ich fahre und fahre, manchmal drehe ich mich sogar im Kreis. Ich umrunde, umkreise ein Fundstück. Was liegt in der Nähe? Woraus besteht hier die Erde? Wer singt dort im Versteck?

Ich bin auf den weiten Wegen nach einem Zuhause, für den Herbst, zunächst mal nur dafür.

Große Ferien 27 – Coda 1

Während der langen Rückfahrt aus den fernen Gefilden spielt sich das Drama meines Kampfes mit dem uralten Navigationsgerät ab. Hier ein Auszug aus dem ersten Akt:

Dem Straßenverlauf lange folgen! – Lange ist ungenau, w i e lange, wäre gut zu wissen! Darauf könnte ich mich dann einstellen, psychisch, physisch, in toto! – Demnächst rechts abbiegen! – Soll das ein Witz sein?! Was heißt demnächst? Dort, an der nächsten Kreuzung? Sag was! Melde Dich! Verdammt noch … – Jetzt bitte rechts abbiegen! – Jetzt?! Genau hier?! An dieser Kuhweide? Kann ja nicht sein, ist ja völlig unmöglich, das ignoriere ich, hörst Du, ich ig-no-rie-re! – Nach Möglichkeit bitte wenden! – Also doch, ich hab’s verpasst, die Abbiegung an der Kuhweide muss es gewesen sein! – Nach Möglichkeit bitte wenden! – Ja doch, ich hab’s begriffen, aber ich denke nicht dran! Hast Du gehört? Es ist mir egal! – Dem Straßenverlauf bitte folgen! – Also das ist jetzt heimtückisch, ich werde lieber doch wenden! – Im nächsten Kreisverkehr an der dritten Ausfahrt rechts abbiegen! – An der dritten?!! Ha, das ist falsch! Die zweite ist richtig, schau mal, es ist die zweite! – Nach Möglichkeit bitte wenden! – Keineswegs, ich bin genau richtig, ganz genau! – Wegen Verkehrsstörungen wurde ihre Ankunftszeit neu berechnet! – Was?! Achtzehn Minuten mehr?! Sauerei! Ich verlange eine Umleitung! – Verkehrsstörung! – Wie bitte? Wo ist hier denn eine Verkehrsstörung? Nirgends! Ich fahre jetzt sowas von drauflos in Deiner frei erfundenen Verkehrsstörung! Siehst Du? Das ist ein Tempo, was? – Verkehrsstörung! – Schwachsinn! Vielleicht gestern oder vor zwei Jahren! – Verkehrsstörung! – Moment! Stimmt, jetzt haben wir den Salat! Das ist keine Verkehrsstörung, sondern ein Stau!! – Verkehrsstörung! – Ich steige gleich aus, ich unterbreche die Fahrt, bis Du wieder zur Vernunft gekommen bist. – Verkehrsstörung, bei der nächsten Ausfahrt bitte rechts abbiegen! – Aber wie denn, bitte schön?! Wir stehen im Stau!! Mittendrin! – An der übernächsten Ausfahrt bitte rechts abbiegen und links fahren! – Du hast eine Krise, sag ich Dir, Du bist völlig durcheinander! Wir suchen jetzt die nächste Raststätte auf. – Wenn möglich bitte wenden …

Große Ferien 25 – Musik am Strand

Natürlich lese ich am Strand nicht nur …, sondern? Schaue aufs Meer, schaue lange, schaue, wie sich die heftigeren Wellen am nahen Riff spalten, in schweren Zungen die großen Steine umrunden, zur Ruhe kommen, sich absetzen, in Perlenschnüren zerlaufen …

Im langen Schauen aufs Meer steckt etwas Geheimnisvolles. Als zöge einen seine Erscheinung an und führte zu einem unentwegten gegenseitigen Abgleichen und Fixieren. Der Blick erstarrt und die Eindrücke fluten langsam das Hirn. Die wenigen Farben sind hilfreich: kein Theater, keine Aktion, sondern das Immergleiche.

Weswegen ich die Neigung zu ausgedehnten Unterhaltungen am Strand überhaupt nicht teile. Aber wie steht es denn mit Musik?

Musik am Strand (über Kopfhörer) kommt dem reinigenden Tiefenblick fast immer in die Quere. Ich habe vieles ausprobiert: Klaviermusik solo (lenkt ab), großes Orchester (lenkt noch mehr ab), Gesang (löscht den Blick aufs Meer endgültig).

Rein durch Zufall habe ich eine Lösung gefunden: Harfe! Harfe????! Ja, Kompositionen (Metamorphosis/The Hours) von Philip Glass, auf der Harfe von Lavinia Meijer gespielt! Passt perfekt! Und warum?! Wieder erbitte ich Vermutungen meiner Leserinnen und Leser: ortheil.hannsjosef@gmail.com