Liebe Leserinnen und Leser, anscheinend gibt es eine Störung oder ein Problem bei den Lektüren des Blogs. Manche können die letzten Einträge, 9., 11., 12. und 13.10. 2023, lesen wie früher, andere nur eingeschränkt (nur einige), eine dritte Gruppe kann alle nicht lesen. Die Techniker werden sich am Montag um das Problem kümmern. Ich bitte, die Störung zu entschuldigen.
Nachdenklichkeit
Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, wegen der Kriege in der Ukraine und in Israel fällt es mir momentan schwer, weitere Einträge in den Blog zu stellen. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich eine Weile aussetzen sollte.
Das werde ich nun aber doch nicht tun, da ich weiß, dass viele Leserinnen und Leser den Einträgen kontinuierlich folgen und daraus oft Anregungen und manchmal sogar Kraft beziehen.
In den letzten Tagen habe ich häufig auf die Bücher von Jon Fosse hingewiesen und sie empfohlen. Ich denke, dass gerade dieser Schriftsteller in den jetzigen Zeiten hilfreich sein kann, weil er klug und tiefergehend über Lebens- und Todesfragen geschrieben hat – und das auf eine niemals effekthascherische, sondern nachdenkliche, die Leserschaft einbeziehende Weise.
Kommende Woche wird die Buchmesse in Frankfurt beginnen. Auch dort werden sich viele „Büchermenschen“ treffen, die sich fragen, ob die Gespräche auf der Messe „über dies und das“ den gegenwärtigen Kriegen angemessen sind oder gerecht werden. Das werden solche peripheren Unterhaltungen sicher nicht, sie halten aber „das Leben“ in Gang und versuchen im besten Fall, der naheliegenden Depression etwas an Stabilität entgegen zu setzen.
Die kritischen Zustände der Jetztzeit, in der hilflose Menschen ermordet werden, lassen die Betriebsamkeit, die davon nicht Betroffene zeigen, oft als lächerlich erscheinen. Ein starkes Ärgernis wird sie, wenn sie sich gedankenlos und dumm in Form eines Frohsinns artikuliert, wie er von der ARD zum Beispiel am vergangenen Samstag gesendet wurde (als nach den Nachrichten aus Israel „Verstehen Sie Spaß?“ im Programm blieb).
Als isoliertes Subjekt empfindet man die eigene Hilflosigkeit oft als unerträglich. Was kann man tun? Zum Beispiel: All jenen aus dem Bekannten- und Freundeskreis in der Nähe beistehen und helfen, die Angehörige oder Freunde in der Ukraine oder in Israel haben. Dann: Hilfsprojekte nach den eigenen Möglichkeiten finanziell unterstützen. Und zuletzt: Wach- und aufmerksam für die Umgebung bleiben und sich mit jenen Menschen solidarisieren, die auch öffentlich Partei ergreifen und den Terror als solchen benennen und verabscheuen.
Musik?! Gerade jetzt Musik?! Ja…, doch. Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson ist momentan mit seiner Einspielung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach auf Tournee. Er spielt nur diesen großen Monolog, nichts sonst. Im Netz ist er auch in voller Länge abrufbar. Hier der Anfang:
Jon Fosse wird interviewt
Höchste Zeit, Jon Fosse auch selbst zu Wort kommen zu lassen! Er hat der ZEIT-Redakteurin Iris Radisch ein Interview gegeben, seine Reaktion auf die Zuerkennung des Nobelpreises geschildert und seine Poetik skizziert –
https://www.zeit.de/2023/43/jon-fosse-nobelpreis-literatur-auswirkungen-interview
Jon Fosses Poetik
Der Autor und Dramaturg Thomas Oberender hat in einem sehr lesenswerten Artikel in der Berliner Zeitung über den poetologischen Zusammenhang der Dramen und Prosatexte Jon Fosses informiert.
Dadurch werden die Besonderheiten der Literatur des diesjährigen Nobelpreisträgers mitsamt den biografischen Hintergründen sichtbarer. Ich empfehle diesen Artikel zur genauen Lektüre:
https://www.thomas-oberender.de/578_deutsch/3_text/1525_2023/1589_ich_will_kalt_und_klar_sein_portrait_des_literatur_nobelpreistraegers_jon_fosse_berliner_zeitung_9_10_2023_s_11
Die Podcastschwemme
Ein Freund sagte neulich, wir seien in einer neuen Phase der Digitalisierung angekommen. Er nennt sie die Podcastschwemme und erklärt ihre Entstehung durch einen Rückblick auf die lange Phase des pandemischen Schweigens. Heute fragt er sich, wie er diese Stille überhaupt ausgehalten habe, dabei habe er sie bei näherer Betrachtung mühelos ertragen: Schluss mit dem multimedialen Gerede! Konzentration auf einige ruhig verlaufende, virtuelle Gespräche oder auch Telefonate mit Freunden, länger als je zuvor. Gute Dialoge waren das, sagt mein Freund, ein großes Studio der schweigsamen Mitteilungen von Du zu Du, fast wie in Stücken des Nobelpreisträgers Jon Fosse.
Jetzt aber haben sich der Rederausch und die Redeflut breitgemacht, und überall gibt es Podcasts, Reden über alles und jedes, als hätten die digitalen Rednerinnen und Redner das Radio neu erfunden. Das sind Radio-Atmosphären wie in den fünfziger Jahren, als man noch süchtig mit dem Ohr dicht am Empfänger saß, während man ein erotisches Kribbeln der Kontaktaufnahme mit den fremden Stimmen empfand. Damals hat man „atemlos“ zugehört, mit geschlossenen Augen – Hörspiele hatten Hochjunktur.
Die Podcasts haben sich inflationär vermehrt, weil viele jetzt sprechen und nochmal sprechen wollen, mit sich selbst, mit anderen, in allen Richtungen, zu allen Zeiten, beim Joggen, bei der Haus-, ja selbst bei der Gartenarbeit. Die Themen sind austauschbar, Hauptsache, das Sprechen wirkt „authentisch“, improvisiert und nicht einstudiert.
Vielleicht, sagt mein Freund, ist diese Welle auch eine andere Seite der gegenwärtig oft spürbaren Gereiztheit und Wut. Viele auf den ersten Blick harmlose Themen entfalten beim zweiten Blick Stör-und Gewaltpotentiale, das dazu gehörende, hässliche Schlagwort heißt „Positionierung“: Habe ich mich richtig und angemessen „positioniert“, darf ich sagen, was ich sagen will? – das sind die Fragen. Die ungezählten Podcasts könnten auch Versuche sein, friedliche Positionierungen zu betreiben, nicht direkt spürbar, sondern durch die Hintertür. Um die mögliche Wut im Voraus zu bremsen.
Mein Freund hat „De ira“ von Seneca gelesen und entdeckt, wie dieser altrömische Philosoph die Wut beschrieben hat: „Wir werden oft nicht auf diejenigen wütend, die uns bereits verletzt haben, sondern auf diejenigen, die das erst noch vorhaben.“ Demzufolge wittern wir also, was uns an Verletzungen von diesem oder jener droht. Und da wir das im engen Kontakt mit den Social-Media-Kanälen täglich genau verfolgen, kocht in uns eine immer stärker werdende Empörung, die nach Entladung drängt. Dem, meint mein Freund, kommen die Podcasts vielleicht zuvor, sie reden die bedrohliche Wut weg.
„Das“, habe ich zu meinem Freund gesagt, „hört sich aber sehr einseitig an, schließlich haben Podcasts doch auch viel Gutes, sie können unterhalten und informieren!“ Als ich darauf beharrte, gab er zu, Podcastsüchtig zu sein, es handle sich um eine neue Phase der Handysucht. „Und was tust Du dagegen?“ fragte ich. Mein Freund zeigte mir sein Handygefängnis. Es ist eine abschließbare Box, in die man das Handy für einen frei gewählten Zeitraum einsperren und wegschließen kann. „Endlich kann ich mich wieder auf etwas Anderes konzentrieren“, sagt mein Freund, „auf die Familie, auf Freunde, auf die Tiere im Zoo, die Box ist eine fabelhafte Erfindung.“
Ich wurde still und vertiefte mich später in Seneca. Wie wäre es, die aufkeimende Empörung dadurch zu drosseln, dass man das Wutgerede nicht an sich heranlässt? „Grobe Beschimpfungen, von Kritikern zerpflückt zu werden, all das sollten wir verachten und mit unserer großen Seele (magno animo) solche kurzzeitigen Unannehmlichkeiten ertragen.“ Seneca, dachte ich, muss eine Ahnung von den Social-Media-Kanälen und den Handygefängnissen unserer Tage gehabt haben. Er verachtete die Wut als etwas Kurzfristiges. Der Schlusssatz von „De ira“ betreibt dagegen eine Positionierung langfristiger Art: „Wir brauchen nur hinter uns zu schauen und uns einmal umzudrehen, wie man so sagt, und schon ist die Sterblichkeit da.“
Ein starker Kunstmoment
Ich erhalte, wie schon hier und da gesagt, viele Mails der Leserinnen und Leser dieses Blogs. Die meisten kommentieren eine Passage aus meinen Büchern, andere erzählen eigene Lebensdetails, die sich an Szenen der Bücher anlehnen.
Es gibt aber auch Mails, die dadurch glänzen, dass sie Themen dieser Bücher weiterdenken. So hat mir vor kurzem ein Leser geschrieben, der meine Lesung aus den „Kunstmomenten“ in Erwin Wortelkamps TAL erlebt hatte. Er schrieb, dass ihm nicht aus dem Kopf gehe, wie ich in dieser Lesung den Begriff des „Kunstmoments“ erläutert und umkreist habe.
Weitergehend habe er sich gefragt, wo und ob er auch in seinem eigenen Leben auf diese Form der „Kunstmomente“ gestoßen sei. Und – er habe einen solchen Moment auf diesem Foto gefunden:
Es zeige seinen Enkel in einem venezianischen Hotelzimmer, voller Erstaunen und Aufmerksamkeit für den „alten, schönen Raum“. Sei das nicht ein „Kunstmoment“, so wie ich ihn verstünde?
Ja, da stimme ich zu. Der Enkel nimmt einen Raum als etwas Besonderes, Einzigartiges wahr – das ist eine ästhetische Wahrnehmung (distanziert, aber voller Emphase). Damit daraus ein „Kunstmoment“ wird, kommt aber noch etwas hinzu. Denn der Enkel bleibt mit seiner Wahrnehmung nicht allein. Er wird vielmehr von einem Beobachter wahrgenommen, dem dieser Moment aufgefallen ist und der ihn festgehalten (fotografiert) hat.
Und, drittens: Der Leser meines Blogs hat das Foto wiederum staunend „studiert“ (wie Roland Barthes sagen würde) – und das Foto als Fixierung einer ästhetischen Wahrnehmung empfunden und wahrgenommen.
Damit schließt sich der Kreis: Ein „Kunstmoment“ beginnt mit einer ersten Aufmerksamkeit für ein Detail der realen Welt. Dieses Detail wird als ein ästhetisches (organisiertes, strukturiertes) empfunden. Das hält eine andere Person fest und macht diese Aufmerksamkeit zu einer geteilten. Und diese Übertragung wird drittens von einer weiteren Person beobachtet und festgehalten. Der Leser schrieb mir, dass er das Foto „immer wieder“ anschaue.
In der Tat: Man glaubt, dass eine bildliche Szene festgehalten ist. Wie auf einem Gemälde oder in einem (britischen?) Film, der in viktorianischen Zeiten in Venedig spielt: Der junge Engländer ist gerade angekommen und mustert das Hotelzimmer, das mit vielen venezianischen Insignien aufwartet. Come bello!
Ich danke dem Leser für seine Mitarbeit! und würde mich freuen, von den Leserinnen und Lesern dieses Blogs weitere „Kunstmomente“ zu erhalten.
Ich wünsche ein entspanntes, ruhiges Wochenende, verbunden mit einer feurigen Aufnahme des Trios in C-Dur (KV 548) von Wolfgang Amadeus Mozart:
Nobelpreis für Jon Fosse
Dem norwegischen Schriftsteller Jon Fosse wurde gestern der Nobelpreis für Literatur 2023 zugesprochen. Darüber habe ich mich sehr gefreut, es ist die mir nächste Entscheidung des Kommitees seit vielen, vielen Jahren!
Anders Olsson, der Vorsitzende des Preis-Kommitees, sagte in einer Stellungnahme, dass die Besonderheit von Fosses Werk vor allem darin bestehe, die Leserinnen und Leser tief zu berühren: What is special is that he touches on the deepest feelings that you have…“
Genau das ist es, denn diese Formen des „tiefen Berührens“ machen für mich die zentrale Aufgabe von großer Literatur aus.
Olsson wies auch auf die vielen Dramen von Jon Fosse hin, deren Texte man wie Prosa lesen kann. Auf die Frage, ob er ein einzelnes Werk von Fosse zum Kennenlernen empfehle, empfahl er Morgen und Abend, ein kurzes Prosastück, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, erschienen im Rowohlt Verlag, das auch ich zur ersten Lektüre empfehle.
Kunstmomente in SWR 2
Am vergangenen Wochenende hat die SWR-Redakteurin Leonie Berger in einem Gespräch mit einer Kollegin meine „Kunstmomente“ im Programm von SWR 2 vorgestellt. Hier ein Mitschnitt des Gesprächs…
https://www.swr.de/swr2/literatur/kunstmomente-der-autor-hanns-josef-ortheil-beschreibt-wie-ich-sehen-lernte-100.html
Und hier eine erste Lesung aus Kunstmomenten:
Wem gehört Berlin?
Heute, am Tag der Deutschen Einheit, läuft ab 20.15 Uhr auf ARTE die fünfteilige, sehenswerte Dokuserie Capital B – Wem gehört Berlin? Der Dokumentarfilmer Florian Opitz hat das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Die Serie zeigt anhand von Archivmaterial die Entwicklung der Hauptstadt seit 1989.
Viel klüger, informativer und hintergründiger als alle Sonntagsreden zum Feiertag und die nervenden Klagelitaneien über die „nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen West und Ost“.
Auch in der ARTE-Mediathek abrufbar:
https://www.arte.tv/de/videos/RC-024312/capital-b/
Die einsame Stadt
Es ist noch gar nicht so lange her, dass die britische Schriftstellerin Olivia Laing von England nach New York zog, um dort mit einem Freund zusammen zu sein. Ihr Buch über das Alleinsein beginnt jedoch nicht mit Schilderungen des gemeinsamen Lebens, sondern mit einer vielsagenden, starken Szene der Isolation: Sie steht abends allein an einem Fenster und schaut hinab auf die Straßen der Stadt.
Ist sie einsam? Weiß sie, was Einsamkeit ist? Der Blick erweckt andere Texte des seltsamen Zustandes zum Leben, und viele Szenen beginnen zu kreisen, so dass sie das Alleinsein genauer untersucht. Welche Formen gibt es? Woher kommen sie?
Dabei gerät sie auf unmerkliche Weise schon bald in die Sphären von Bildern und Kunstwerken, die den vereinzelten Menschen inszenieren. Sie geht ihnen nach und mischt sich in die New Yorker Kunstszenen.
Vor allem Andy Warhol taucht immer wieder aus der Vergangenheit auf, er ist die Leitfigur des Buches, während die Fotografin Nan Goldin mit ihren intim wirkenden Porträts naher Menschen die weibliche Gegenfigur ist.
Man liest das kluge Buch wie einen prickelnden Walk, und es macht gar nichts, wenn man sich nicht überall „auskennt“. Olivia Laing erzählt hingerissen und emphatisch von Menschen, die sie mit ansteckender, wohltuender Neugierde begleitet. Kein typisches „New York-Buch“, sondern ein raffiniertes Projekt, das die verborgenen Welten einer Stadt auf Schleichwegen erkundet und interessante Einblicke in das Künstlerleben bietet.
- Olivia Laing: Die einsame Stadt. Vom Abenteuer des Alleinseins. Aus dem Englischen von Thomas Mohr. btb 2023