Goethe und das Tempolimit

(Am 16.06.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Die großen Ferien beginnen, wir starten jetzt in den Süden Italiens und laden einen Experten ein, uns zu begleiten. Es ist Volker Wissing, Minister für Verkehr und Digitales, nebenbei auch stolzer Besitzer eines Weinguts und in älteren Zeiten Landesminister für Weinbau in Rheinland-Pfalz. „Kennst Du das Land?“ rufen wir dem Minister zu, und er winkt beflissen gleich ab. Na klar, kennt er, Goethe, das berühmte Italiengedicht, wegen dessen atemraubend werbenden Zeilen viele Deutsche in den kommenden Wochen nach Italien fahren. Ins Land, wo die Zitronen blühn und die Goldorangen glühn, alles klar.

Wir starten in Südtirol, wo man auf den Autobahnen 110 km/h fährt, ein ruhig und zivilisiert dahingleitender Strom von vielen deutschen Autofahrerinnen und Autofahrern begleitet uns, viele winken dem Minister zu, den Wein- und Obstplantagen zu beiden Seiten geht es gut, auch deshalb, weil keine Raser unterwegs sind.

„Tempolimit, Herr Minister!“ sagen wir laut und deutlich, und Volker Wissing blickt abwesend aus dem Fenster, prüfend, ob auch genug Verkehrsschilder vorhanden sind, die darauf hinweisen. Vor einiger Zeit hat er einen Tempolimitversuch unterbunden, weil man dafür lauter neue Schilder aufstellen müsste und es eine solche Menge an Schildern in Deutschland eben nicht gebe. In Südtirol gibt es nur ab und zu welche, denn es braucht sie erst gar nicht, weil alle Fahrenden seit langem schon wissen, dass man auf diesen Autobahnen nicht schneller als 110 km/h fährt. Daran halten sie sich mit Vergnügen und Freude, und die wenigen Wichtigtuer, die unbedingt ihren Wagen ausreizen müssen, werden einfach ignoriert.

Wir biegen auf die Autostrada del Sole ein, schon der Name macht uns kribbelig und erinnert an die schönsten Tage an den südlichen Stränden. Auf der ganzen Strecke gilt nun ein Tempolimit von 130 km/h, und selbst der letzte, von Canzoni aus dem Autoradio besoffene Porschefahrer hat begriffen, wie schön es sein kann, eine Flotte von Fiats nicht laufend zu überholen, sondern in ihr mitzugleiten.

„Merken Sie, wie 130 km/h sich anfühlen?“ fragen wir den Minister, und er schaut wieder aus dem Fenster, wo die kultivierten Agrarlandschaften des Landes mit ihren dunkelgrünen Weinbergen vorbeigleiten, es ist ein Genuss, so in Gesellschaft mit vielen Genießern zu fahren. „Es geht nicht ums Energiesparen“, sagen wir weiter, „sondern um den zivilisatorischen Fortschritt. Wer 130 km/h statt 230 km/h fährt, beweist, dass er Landschaften zu erleben weiß, anstatt sie wie bloße Kulissen für einen Egotrip zu misshandeln.“ Minister Wissing denkt noch etwas nach, dann öffnet er ein Fenster und sendet ein kurzes Lächeln ins Freie.

„130 km/h“, sagt er nachdenklich, „das würde einen Keil in unsere Gesellschaft treiben.“ – „Im Gegenteil“, antworten wir, „es würde unsere Gesellschaft von einem nervenden Thema befreien und dazu beitragen, dass endlich wieder elegantere Autos gebaut würden. Keine aufgeplatzten, breitbeinigen Konservendosen mit Heckplomben, sondern schlanke und schmale Gleiter, derer man sich nicht zu schämen bräuchte.“

Es wird still, die Sonne scheint untermalend, „ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“, flüstern wir, und der Minister scheint zu begreifen, dass Goethe mit dieser Zeile den Wunsch nach einem Tempolimit vorweggenommen hat. „Kennst Du das Land?“ heben wir noch einmal beschwörend an, „wo die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?“ Minister Wissing hat zu kauen, es entgeht uns nicht. Zeit, den letzten Stich zu platzieren: „Kennst Du es wohl? Dahin! Dahin, möcht ich mit Dir, o mein Minister, ziehn.“

Sommerliche Reisen zu den Schreibwelten

Alex Johnson stellt in seinem Buch Schreibwelten (aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer, mit Illustrationen von James Oses, wbg Theiss) Denk- und Arbeitsräume von fünfzig Autorinnen und Autoren aus aller Welt vor. In einigen Fällen geht er Jahrhunderte zurück, aber auch die Gegenwart ist reich vertreten.

Auf die Zeit kommt es nicht an, die untersuchten Objekte scheinen einem Geheimbund anzugehören, der sich auf sehr ähnliche Riten und Bekenntnisse verständigt hat. Wie werden die Schreibräume eingerichtet, wie lange hält man sich in ihnen auf und welche Rituale halten und prägen das meist tägliche, mehrstündige Schreiben? – das sind einige der leitenden Fragen.

Erstaunlich ist, dass die skizzierten Schreibprozesse sich ähneln. Viele beginnen morgens früh, verlaufen konzentriert einige Stunden bis zum späten Mittag und werden dann von gegenläufigen Aktionen abgelöst: Spaziergehen, Lektüren, Abwechslungen, die aber keine allzu starke Dominanz entfalten dürfen.

Auffällig ist auch, dass Schreibprozesse einem oft strengen, inneren Diktat unterliegen, das alle störenden Faktoren fernzuhalten versucht. Schreiben ist fast immer ein unbedingter Rückzug auf das Gespräch mit sich selbst, und die Welten, die ihn begleiten, haben etwas Monotones und nur in den seltensten Fällen etwas Glanzvolles.

Narkotika spielen eine geringe Rolle, wohingegen die Schreibmaterialien und das Schreibwerkzeug nicht selten so sehr verehrt werden, als wären sie lebendige Wesen, die den Körper der Schreibenden um zusätzliche Attribute verlängern.

Die meisten Autorinnen und Autoren haben eine geradezu manische Passion, sie werden ungeduldig und unleidlich, wenn eine Unterbrechung des Schreibens droht. Kaum ist ein Werk beendet, beginnen sie mit dem nächsten, das ununterbrochene Sitzen scheint etwas höchst Reizvolles zu haben, obwohl sie gerade davon nur selten berichten. Stattdessen bleiben sie verschwiegen und starren unentwegt auf den geschützten Raum ihrer Geheimnisse, zu dem sie keinen Zutritt erlauben.

Sie wollen ganz und gar für sich bleiben, und wenn sie über ihre Schreibwelten sprechen, ergehen sie sich in Andeutungen oder flüchten zu rührenden Empfehlungen, die ihnen nur sehr Naive und Gutgläubige abnehmen werden.

Die überall durchschimmernde Wahrheit über das Schreiben ist nämlich eine harte, sie besteht aus Unterwerfung und Gefangenschaft, und sie ist so rein gar nichts für Menschen, denen das gesellige Leben mit seinen sozialen Gemütskontakten viel bedeutet.

Mit Romantik hat das alles überhaupt nichts zu tun, die Autorinnen und Autoren dieses Buches verstecken sich in ihren Hütten und Kammern, sie leben geräuschlos und vertragen keine Geräusche, und wenn sich andere Wesen nähern, sollten diese Eindringlinge sich hüten, irgendeine Rolle in den einsamen Welten spielen zu wollen, niemand wird sie darum bitten.

Allein zu sein – das ist die Kunst, nichts mehr und nichts weniger, nur: vollkommen allein sein können, von der ersten bis zur letzten Zeile, unabgelenkt, einem intensiven Austausch mit der Sprache verpflichtet.

Im Anhang des Buches finden sich „Besucherinformationen“, die jetzt, in der Sommerzeit, zu sommerlichen Reisen verführen. Hier sind all jene Schreibwelten aufgelistet und empfohlen, die für die Heutigen einen Besuch ermöglichen. Als Museum, als literarisches Zentrum oder als landschaftlicher Raum, der zum Schreiben inspirierte. Man könnte das Maison de Balzac in Paris aufsuchen oder Hemingways Finca auf Kuba, oder man könnte (gewagter Fall!) ein Zeitfenster von zwei Stunden im Haus von Emily Dickinson in Amherst, Massachussetts, vereinbaren, wo man mit den nachlebenden Geistern der Dichterin allein ist – ganz allein und hoffentlich nicht sprachlos.

Syrisches Brandkraut

An sommerlichen Tagen schießt das syrische Brandkraut in die Höhe und lässt an den trockenen Rändern der Beete und Wiesen eine Garde von Wesen erscheinen, die viele Blicke auf sich ziehen. Sie murmeln ferne Zeilen, aus der Türkei, dem Iran und den Weiten Arabiens.  

Die triumphal sich gebärdenden Stängel bringen die Herzlappen der grünen Blätter zum Leuchten, während die Blütenstände ein Hochhaus aus vielen Etagen formen, bis hin zu den obersten Lagen der Penthäuser.

Das alles entwirft eine unvergleichliche Architektonik, derer sich in den Sommerzeiten die Bienen bedienen.

Aufmerksame Betrachter orten jedoch extraterrestrisch wirkende Salons und Kammern, in denen sich geheime Flugobjekte verbergen. Im Frühherbst wird man mehr über sie erfahren.

Prosanova 2023

Vom 23.-25. Juni 2023 findet in Hildesheim Prosanova 2023, das größte Festival für junge deutsche Literatur statt, das alle drei Jahre von Studierenden des Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim in Eigenregie geplant, organisiert und durchgeführt wird. (Über dreißig Jahre habe ich an diesem Institut geforscht und gelehrt und tue es gegenwärtig als Seniorprofessor noch immer.)

Hier das Programm mit den Terminen und Themen der vielen, aufwendig konzipierten Veranstaltungen – Vierzig junge Autorinnen und Autoren in über fünfzig Veranstaltungen!

https://prosanova.net/

Der Besuch bietet ideale Gelegenheiten, ein weites Spektrum von junger Gegenwartsliteratur kennenzulernen und reichhaltige Anregungen für das eigene Schreiben zu gewinnen!

Ich empfehle daher (emphatisch) eine sommerliche Reise nach Hildesheim. Übernachten könnte man im Gästehaus Klocke in ruhiger, schöner Lage. Von dort könnte man am frühen Morgen kaum hundert Meter zum Freibad JoWiese (ab 6/7 Uhr geöffnet!) gehen, um vor den Veranstaltungen einige Bahnen zu schwimmen. Gegenüber befindet sich ein griechisches Restaurant (Eleon), wo man am Mittag und Abend im Freien gut essen kann.

Hildesheim ist eine alte Bischofsstadt mit bedeutenden Gebäuden (wie etwa dem Dom oder der Kirche St. Michaelis). Es besitzt ein Museum mit seltenen altägyptischen Werken (Roemer- und Pelizaeus-Museum), unter denen das des Schreibers Heti für alle Schreibwilligen eine Ikone darstellt.

Die Stadt ist bequem mit dem Fahrrad zu erkunden, ich empfehle eine Fahrt am Flüsschen Innerste entlang, bis zur mittelalterlichen Domäne Marienburg, wo sich die Institute des kulturwissenschaftlichen Fachbereichs 2 (Literatur, Kunst, Musik, Theater und Medien, Philosophie, Kulturpolitik) befinden.

Wer sich auf diesen bestimmt hochgradig anregenden Besuch vorbereiten möchte, könnte das am besten mit Hilfe eines Buches tun, das ich zusammen mit Paul Klambauer herausgegeben habe: 1200 Jahre Literarisches Hildesheimmit Essays und Aufsätzen einer Forschungsgruppe, die in einer Ringvorlesung der Universität vorgestellt wurden und einen guten Überblick über die Geschichte und Literatur Hildesheims bis zur Gegenwart geben.

Allen interessierten Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich einen ertragreichen, inspirierenden Aufenthalt! 

Wiesen im Juni

Anfang Juni sind die Löwenzahnwiesen des Mais verschwunden. Die grünen, frisch gemähten Graslagen glänzten und schimmerten noch eine Weile in der Sonne, durchzogen von den ockergelben Radspuren der Traktoren, die einen trockenen Mäh-Parcours zeichneten.

Dann wurden die hingestreuten Lagen abgeräumt, und die Wiesen traten in ihren kargen Tönen wieder hervor und breiteten sich geschoren unter die matten Lichtdecken.

So ging der Frühling gleitend in den Sommer über. Nach langanhaltendem Regen im Mai setzte sich die Sonne durch und ließ die vitalen Energien allmählich ermatten.

Zurück blieben die dunkleren Pfade der Spaziergänger – an den Wiesenrändern entlang markierten sie Linien und sacht geschwungene Bögen, stille Geometrien des Auf und Ab.

Jetzt, mit dem endgültigen Durchbruch des Sommers, beginnen die Flächen langsam zu versteppen und in strohigen Blinzwuchs überzugehen. 

Das Bild hängt schief

(Heute, am 7.6.2023, auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Was ist eigentlich los? Was sind das für gespenstische Zeiten! Das sogenannte „öffentliche Leben“ hat etwas hochgradig Irritierendes und versetzt einen unaufhörlich in Schrecken. Sobald eine der politisch agierenden Gestalten irgendwo auftritt, wirkt sie überbeansprucht, mitgenommen, den Dingen nicht mehr gewachsen. Robert Habeck hat jede Gelassenheit verloren und steht nervös vor den Mikrophonen, die er früher noch rhetorisch getätschelt hat, und selbst der sich am liebsten harmlos und unauffällig gebende Kanzler wirkt bei seinen Reisen in alle Welt wie ein gehetzter Antichambreur, der in den Nächten von geheim gehaltenen Panikattacken und Katastrophenmeldungen geschüttelt wird.

Ich habe Freunde, die ganz in die militärisch denkenden Sektionen abgewandert sind und mir laufend erklären, welche ukrainischen Gegenoffensiven wo und wann Erfolg haben könnten. Sie lassen den Zeigefinger über Landkarten wandern und tun so, als wären sie vor Ort dabei und hätten den Durchblick. Mühelos können sie mir erklären, wie Hyperschallraketen bei Luftangriffen abgewehrt werden: durch das Flugabwehrraketensystem „Patriot“ mit einer Reichweite von 35 km. Ich danke für die Information, Herr Offizier, ich habe verstanden!

Flieht man wie in älteren Zeiten in kirchliche Räume, werden dort die dicken Akten mit Hunderten von Missbrauchsfällen aufgeschlagen, biegt dann noch Kardinal Woelki irgendwo um die Ecke, schlage ich inzwischen das Kreuzzeichen und bete zum Herrn, dass er ihn wieder zum Kaplan in Ratingen machen und den Papst in Rom endlich zu einer eindeutigeren Haltung gegenüber Gott und der Welt bekehren möge.

Warum ist es so schwer, den Bürgerinnen und Bürgern in Ruhe, mit Verstand und so, dass die Alternativen leicht nachvollziehbar sind, einen neuen Umgang mit Strom, Gas und Heizungen zu erklären? Ist da von monströsen Gebilden die Rede oder von schlichten Versorgungsgeräten? Und ist die in aller Munde herumgereichte „Wärmepumpe“ ein gerissener Vampir, der Luft absaugt, um sie in blutige Energie zu verwandeln?

Es gibt kaum noch Ruhe- und Fluchtzonen, in denen man sich mit gutem Gewissen aufhalten könnte. Ist man mit Kindern oder Jugendlichen unterwegs, packt einen das Entsetzen, wenn man ihren Smartphone-Umgang beobachtet und mit welchen Videos und Nachrichten sie sich stündlich versorgen. Aber warum zeigt dann jedes zweite Bild einer Nachrichtensendung lauter vorbildhaft erscheinende Menschen wie gehorsame Dackel, die von ihren Smartphones Gassi geführt werden? Atmet man danach einen Moment befreiter, um das Ende der Fußballsaison halbwegs entspannt zu erleben, erkennt man Wirtschaftsbosse der Vereine, die brachial an Spielern und Zuschauern vorbei agieren, um mal so richtig auf die Pauke zu hauen.

Das alles hat etwas Entwürdigendes, Mieses. Wo auch immer man hinschaut, hängen die Bilder wie in Loriots Sketchen schief und keiner ist mehr da, um sie auf sympathische und freundliche Art wieder gerade zu hängen. Da war es ein Glück, dass die unzeitgemäße Antennenanlage meines Fernsehens den Dienst einstellte. „Kein Signal oder schlechtes Signal“ meldet sie seit einigen Tagen, „ändern Sie die Geräteeinstellungen!“ Nein, ich werde nichts ändern, sondern keine Nachrichten mehr im Fernsehen verfolgen. Lieber schaue ich Loriots Sketche in neuer Bearbeitung in einer der vielen Mediatheken. In diesen virtuellen Schlafzimmern könnten sich die Ruhepole der Zukunft auf überraschende Weise verbergen, unerwartet und zum Glück ohne KI.

„Die große Liebe“ – auditiv und visuell

Gestern habe ich im Kulturwerk von Wissen/Sieg aus meinem 2003 erschienenen Roman Die große Liebe (btb) gelesen. Nach den Lesepassagen wurden Fotoserien gezeigt, die der Fotograf Wolfgang Dickopp an den Orten des Romangeschehens gemacht hatte. So erlebten die Zuhörerinnen und Zuhörer eine zweigleisige Lektüre: auditiv und visuell, vergleichend, partizipierend.

In meiner Einleitung erinnerte ich mich daran, wie der Roman entstanden war. 1993 war ich auf Einladung von Freunden zum ersten Mal an die Adriaküste in die italienischen Marken nach San Benedetto del Tronto und Acquaviva/Picena gefahren. Die starken Bilder der Regionen am Meer und in den Bergen waren mir danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Zehn Jahre lang fuhr ich immer wieder dorthin und lernte die Menschen, Räume und Erlebnisrituale genauer kennen, bis die vielen Bilder in meinem Kopf schließlich auf textuelle Fixierungen gedrängt hatten.

Ab Januar 2003 schrieb ich Eindrücke und Szenen in ein Skizzenbuch, in dem ich Fotos, Bilder und Pläne der Region im Verbund mit den handschriftlichen Notaten sammelte. Daraus entstand mit der Zeit ein schlichter Plan: Ich schickte einen in München lebenden und als Journalist bei einem Fernsehsender arbeitenden Mann auf die Reise, um die von mir so geliebten Ländereien der Marken zu besuchen und Szenen für einen Dokumentarfilm zu sammeln.

Der Journalist war dadurch so etwas wie mein Stellvertreter – er reist los, und schon während der Zugreise in den Süden setzt die Faszination durch die Umgebungen ein:

Plötzlich das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es vor mir wie eine Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun…

Der ruhige Anfang enthält ein erstes, markantes Signal: Ein weites Bild breitet sich aus, und ein Verdacht entsteht. Er zielt darauf, dass der Raum auf intensive, emotionale Weise eine Figur für sich einnehmen wird.

Die wenigen ersten Sätze deuten bereits an, dass Die große Liebe kein „realistischer Roman“ ist, sondern eher ein Roman, den man „spirituell“ nennen könnte. Seine Figuren (im Grunde sind es nur zwei) werden zu Empfindungsträgern von räumlichen Sequenzen und Szenen, sie übersetzen den Raum in nahe und starke Erlebnisse, so dass die Räume sich „zeigen“ und „offenbaren“.

„Liebe“ ist das mystische Stichwort für diese Prozesse, und auf solche tiefergehenden Schichten treibt der Roman zu, bis in die entlegenen Gebirgsregionen des Piano Grande. (Das Foto unten zeigt den Fotografen Wolfgang Dickopp und mich selbst gestern Abend vor diesem Gebirgsplateau – der Zuschauer Wolfgang Pfeifer hat es mir nach der Lesung geschickt…)

Während ich las, zog es mich auf berührende Weise zurück in die Zeiten vor zwanzig Jahren, als ich an dem Roman geschrieben hatte. Im dunklen, großen Saal des Kulturwerks war es stundenlang „mucksmäuschenstill“, und ich hatte das Gefühl, einer intensiven Meditation beizuwohnen, die sich mit Hilfe der Bildgeschichten von Wolfgang Dickopp in einen vielschichtigen Film verwandelte.

Zwei Stunden lang war dieses Changement der Eindrücke zu erleben – horchend auf die Musik des Textes, schauend auf die Bildsprachen der Fotografien. Ein auch für die Zuhörerinnen und Zuhörer wohl unvergessliches Erlebnis!

(Der Abend ist aufgezeichnet worden, die Aufzeichnung wird zurzeit noch bearbeitet. Vielleicht wird es gelingen, sie zum Beispiel auf Youtube zu präsentieren. Mal sehen…)

Die Literaturstadt Wissen an der Sieg

Meine westerwäldische Heimatstadt Wissen an der Sieg ist dabei, eine regionale Literaturstadt besonderer Art mit weiter Ausstrahlung zu werden. Nur hier gibt es einen großen, überregionalen Veranstaltungsort wie das Kulturwerk, nur hier eine Buchhandlung wie den buchladen, der von einer exzellenten Crew von Buchhändlerinnen gestaltet wird (und den Deutschen Buchhandlungspreis 2022 gewonnen hat), nur hier gibt es die Sala Ortheil, in der Schreibakademien für Schreiberinnen und Schreiber stattfinden und zu besonderen Gelegenheiten ein Austausch mit Gästen über das Literarische Schreiben stattfindet, und nur hier gibt es Literaturtage (Wissen liest), in deren ganzjährigem Verlauf aktuelle Neuerscheinungen der Verlage, fachkundig moderiert, vorgestellt werden.

Zuletzt war im März 2023 eine Gruppe zusammengekommen, die sich mit eigenen Texten für eine Schreibakademie beworben hatte und durch das Los ausgewählt worden war. Die eingeschickten Texte wurden im Verlauf der Akademiesitzungen besprochen und in ein aufschlussreiches Gespräch über die Praktiken des Schreibens eingebunden.

Daneben hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Gelegenheit, Notate über die Stadt Wissen zu schreiben, die sie während der nächsten Monate zu Hause ausarbeiteten. Diese Texte wurden mir zugeschickt, und ich habe eine große Zahl von ihnen „textlektoriert“, d.h.: einem Satz-für-Satz-Lektorat unterzogen.

Heute, am 3.6.2023, trifft sich die Gruppe zum zweiten Mal in Wissen: Die lektorierten Texte werden in einer nicht-öffentlichen Sitzung vorgelesen und von Musik begleitet.

Worüber haben die Schreibwilligen geschrieben? Über den Kirchplatz, eine Apotheke, die Rathausstraße, die Heister-Kapelle, die Steinbuschanlagen, über das Eiscafé La giù, über Läden und Geschäfte oder auch über die Siegpromenade.

Mein Plan ist es, solche Texte über Wissen/Sieg in den nächsten Monaten oder Jahren zu sammeln und in einem kleinen Buch zu veröffentlichen: alle textlektoriert, alle mit einem kleinen Wissener Motiv/Thema beschäftigt.

Daran können sich ab heute auch Schreiberinnen und Schreiber beteiligen, die nicht an der Schreibakademie teilgenommen haben. Meine Empfehlung: Fahren Sie nach Wissen, machen Sie dort kurze Notate und arbeiten Sie diese Aufzeichnungen zu lesbaren Texten aus! Diese Texte schicken Sie bitte an: ortheil.hannsjosef@gmail.com

Im besten Fall erhalten Sie nach einiger Zeit zwar kein handelsübliches „Feedback“, wohl aber einen gründlich lektorierten Text zurück.

Wie wäre es zum Beispiel, am 17./18. Juni 2023 nach Wissen zu kommen und über das zweitägige Fest anlässlich der  Eröffnung der neuen Rathausstraße zu schreiben?

Allen Leserinnen und Lesern des Blogs, die lieber Musik hören und/oder zu meiner morgigen Lesung um 18 Uhr aus dem Roman Die große Liebe im „Kulturwerk“ kommen wollen, wünsche ich ein sonniges Wochenende, verbunden mit der Musik von François Couperin (1668-1733), die man mit der von Henry Purcell in Beziehung setzen sollte…

Sokolov spielt Purcell

Am Pfingstmontag, 29. Mai 2023, betritt der Pianist Grigory Sokolov die Bühne der Kölner Philharmonie, verbeugt sich kurz, nimmt rasch Platz und spielt fünfzig Minuten lang (ohne längere Unterbrechungen) Kompositionen von Henry Purcell (1659-1695): Suiten, eine Chaconne, burleske Piecen (das Foto zeigt seinen Steinway-Flügel auf der Bühne).

Die meisten sind zu Lebzeiten Purcells nicht im Druck erschienen, es waren vor allem Übungsstücke für seine Schüler, Variationen von bereits bekannten Themen, luftige und entspannte Laune verbreitende Tänze, Auftritte und Sonderbarkeiten.

Nach fünfzig Minuten Purcell verschwinden Hunderte von Besucherinnen und Besuchern in die Pause, danach wird Grigory Sokolov wieder erscheinen, sich kurz verbeugen, rasch Platz nehmen und eine Klaviersonate von Mozart (KV 333) sowie Mozarts Adagio in h-moll (KV 540) spielen.

Mir aber ging der Purcell nicht mehr aus dem Kopf. Wer meine Autobiografie Ein Kosmos der Schrift (btb) gelesen hat, weiß genauer, warum.

Auf den Seiten 100/101 erzähle ich davon, dass ich nach einem wegen Krankheit abgebrochenen Klavierstudium aus Rom nach Deutschland zurückkam und eine Weile als Kellner in einem Ausflugslokal am Rhein arbeitete. Dort entdeckte ich ein abgestelltes Klavier, an dem ich tief in der Nacht, wenn die Gäste allmählich verschwanden, einfache Klavierstücke spielte. Es waren vor allem Suiten von Henry Purcell.

Die Gäste hatten bald raus, was ich da spielte. Es gefiel ihnen, und sie baten mich häufig, doch bitte „Purcell“ zu spielen, „einen Purcell bitte!“ riefen sie dann in Weinlaune, schließlich hatte ich meinen Spitznamen weg, ja, ich wurde „Purcell“ genannt, Purcell spielte um Mitternacht Stücke von Purcell.

Es waren keine Stücke für bedeutende Pianisten oder große Auftritte an Soloabenden, niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, fünfzig Minuten lang Purcell zu spielen.

Dann aber, am Pfingstmontag 2023, geschah es eben doch! Völlig unerwartet und überraschend spielte einer der größten Pianisten der Gegenwart fünfzig Minuten lang Purcell.

Ich saß unter den Zuhörerinnen und Zuhörern – und ich hörte zu wie wahrscheinlich kaum jemand sonst. Die früheren Welten waren plötzlich präsent, Bonn, Anfang der siebziger Jahre, Bonn am Rhein, ein Ausflugslokal, in dessen Hinterzimmer ein gescheiterter Pianist Stücke von Purcell spielte.

Tief durchatmen, die Zähne zusammenbeißen, zuhören, jede Note erleben…

Spielformen literarischer Kreativität

 

Literarische Kreativität wird fast immer zu einseitig auf Formate und Theorien der Schrift und des Schreibens bezogen. Dabei spielen andere Formen von Kreativität stark mit hinein. Es gibt eine visuelle, auditive, architektonische oder auch theatralische Kreativität, die beim Schreiben die Wege zu anderen Künsten öffnen.

So kann man stark visuell und damit bildlich fixierte Texte ebenso entdecken wie stark musikalisch geprägte oder auch solche, die von architektonischen Bauformen gehalten werden.

Über diese wichtigen Nuancen spreche ich heute u.a. ab 19 Uhr in meiner Lesung im Siegener Museum für Gegenwartskunst, indem ich mein neues Buch Kunstmomente (btb, 18 Euro) vorstelle.

Ich unterscheide den fotografischen Blick vom Museumsblick ebenso wie vom Filmblick und erzähle von solchen Kunstmomenten angesichts von Fotoalben, Galerien, Museen oder Aufenthalten im Kino.

Alle Leserinnen und Leser dieses Blogs lade ich herzlich dazu ein!