Sommersonnentagebuch

Ich lese gerade das Sommertagebuch von Sarah Kirsch (1935-2013) aus dem Jahr 1990, das jetzt von ihrem Sohn Moritz Kirsch veröffentlicht worden ist. Damals lebte die große Lyrikerin mit ihm seit siebzehn Jahren in einem alten Schulhaus eines kleinen Ortes nahe der Nordsee, in Dithmarschen.

Wovon lese ich? Vom Wetter, dem Garten, einem Fluss, der See, vielen Tieren und wenigen Menschen in der Nähe. Kaffee am frühen Morgen, dann das Schreiben, meist erfüllt von den Dingen und Zeichen in der Umgebung, zur Abwechslung werden auch Aquarelle gemalt. Die Farben werden von den Bäumen und den Himmeln geliefert, dazu etwas Regen – schon schillert alles.

Kleine Wunder, reiche Stille. Ein solches Tagebuch, in dem die Schönheit des alltäglichen Lebens derart begeistert gefeiert wird, habe ich noch selten gelesen: Wie schön! Sehr schön! Isset nicht schön?!

Sarah Kirsch hatte genau den Raum gefunden, der in der Tiefe eines inneren Sehnsuchtsbeutels gespeichert und angelegt war – sie hat ihn bezogen und mit nicht nachlassender Freude bewohnt. Immer, wenn sie diese Zuflucht verlassen und verreisen muss, geht sie in sich und wünscht sich möglichst bald wieder zurück.

Und ist sie das, wirkt sie außer sich und begrüßt jede Pflanze und jeden Vogelgesang. Dadurch entsteht das Ideal eines schwerelosen Tagebuchs, wo die Tage knapp eingefangen, gewogen und wieder verabschiedet werden.

Ach ja, das „Politische“ des deutschen Zusammenschlussjahres (was sagt und schreibt Christa Wolf? Wie und wo laufen die PEN-Debatten? etc.) rauscht auch hindurch, kann diesem starken Leben aber nichts anhaben. Von heute aus betrachtet, rauscht es an den Rändern, verzettelt sich von selbst und wird „Geschichte“.

Dieses Tagebuch ist ein großes Sommererlebnis, ja, das ist es.

Der Sommer fängt doch so an. Tagebuch 1990
Der Sommer fängt doch so an

Sommermurmeln mit Personal

Habe wieder wie meist im Sommer eine Fülle von kleinen Ticks. Mich verführt das sommerliche Freiheitsgefühl, das in der Kindheit entstand. Und nun denke ich alter Esel, dass es ganz ähnlich rundgehen sollte. Täglich schwimmen, Fahrradfahren (zumindest eine kleine Strecke, als Versuch), Musik hören und machen (leider allein), lesen, aber bitte, nur im Freien, hinter und unter Bäumen, im Schatten. Viel notieren und ausschließlich packende Gedanken ventilieren (wenn das bloß so einfach wäre!).

Am Kölner Rheinufer konnte mich in letzter Minute eine vorbeischleichende Person davor bewahren, ein paar Meter in den Fluss zu gehen: „Tun Sie das nicht, bitte nicht!“ Ist ja gut, ich hatte mich doch nur mit den Füßen hineingetraut. „Auch das nicht, tun Sie das nicht!“ Ist in Ordnung, ich tue es nicht, dabei fällt es besonders im Sommer sehr schwer, den liebgewordenen Freuden zu entsagen.

Lenke mich stattdessen mit kleinen Spielereien ab, zum Beispiel mit Instagram, dem Poesiealbum für die reifere Jugend. Darüber, was da …gepostet wird (puuh, schon allein dieses Wort!), müsste jemand mal einen guten Essay schreiben. Gibt es den? Über die Texte, die Bilder, den ganzen Kuddelmuddel? Nee, ich schreibe das nicht, soll mich bitte niemand bereden, es selbst zu versuchen. Bitte nicht, sage ich in Anlehnung an vorbeischleichende Personen, die es absolut gut mit mir meinen.

An Sommertagen gehört auch der Besuch von gekühlten Kultstätten zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. In eine Kirche, ein Museum etc. gehen und nur ein einziges Objekt (nach kurzer vorausgehender Musterung mehrerer Objekte) betrachten und einverleiben. Huch, „einverleiben“ ist reichlich pompös, aber an guten Sommertagen wird eben „einverleibt“, weil die Sinne und Poren sich öffnen, Dampf ablassen und den abgelassenen Dampf durch Bilder, Klänge und innere, stete Gesänge auf mehr als merkwürdige Weise ersetzen.

Geht es Dir gut? – was schreibst Du da gerade? Bitte nicht lange drüber nachdenken…, sagen gleich drei vorbeischleichende Personen unisono. Ich gebe nach, und zwar „zeitnah“ (puuh, schon wieder so ein bleiernes Hohlwort).

Erik Satie

Der französische Komponist Erik Satie (1866-1925) starb am 1. Juli vor hundert Jahren. Ich liebe viele seiner kleinen Klavierkompositionen, die mich durch ihre Direkt- und Einfachheiten immer wieder überraschen. Er ist einer der seltenen Komponisten, dessen Schriften sich auch als literarische Texte (Fantasien, Etüden etc.) lesen lassen.

Von ihm stammt die Idee einer Musik, die sich nicht ausbreiten und etablieren, sondern „zurückhalten“ soll. Sie könnte Räume und Hintergründe auf legere Weise füllen und sich mit den Passanten, die sie träumerisch durchqueren, solidarisieren. Er schrieb Stücke mit seltsam-skurrilen Titeln, so ein Schlaffes Präludium für einen Hund oder eine Bürokratische Sonatine.

Er lebte im Künstlerviertel von Montmartre und verdiente seinen Lebensunterhalt zum Teil auch als Bar- und Kabarettpianist.

ARTE hat ihm eine Doku gewidmet:

https://www.arte.tv/de/videos/119443-000-A/erik-satie-ein-komponist-ausserhalb-der-zeit/

Und hier eine Interpretation seiner „Kalten Stücke“:

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich ein satiegetränktes Wochenende!

Hotlist der unabhängigen Verlage

Gerade ist die Vorauswahl für die Hotlist der unabhängigen Verlage mit jenen dreißig Büchern erschienen, die ins Rennen um die zehn besten gehen.

https://www.hotlist-online.com/

Es würde mich freuen, wenn Sie sich etwas Zeit nehmen, diese bemerkenswerten Titel selbständiger Verlage zu studieren, die oft nur mit einer kleinen Mitarbeitergruppe auskommen müssen und sich bemühen, inhaltlich, aber auch formal herausragende, bleibende Bücher gestalten.

Sie können auch abstimmen, welche der dreißig zu den zehn besten gehören sollten. Mein Favorit ist übrigens der Lyrikband der italienischen Lyrikerin Alda Merini: Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine (DVB), den ich in diesem Blog am 11.10.2024 vorgestellt habe.

Viel Freude bei möglichst vielen Entdeckungen!

 

Rundgänge durch die KHM in Köln

Die Kunsthochschule der Medien in Köln (KHM) feiert ihr 35jähriges Bestehen. Das verbindet sie mit der Präsentation von Abschlussarbeiten der Studierenden, die heute beginnt.

Es lohnt sich also sehr, in den folgenden Tagen bis zum 20.7.2025 einen Rundgang (oder mehrere Rundgänge!) durch die Hochschule anzutreten und sich mit den künstlerischen Projekten aller Richtungen und Fächer vertraut zu machen.

Hier ein Überblick über Orte/Räume und Programme:

https://www.khm.de/Rundgang_2025/

Gerne erinnere ich mich an meine Gastdozentur, die im Wintersemester 2015/16 mit Vorlesungen und Seminaren über Themen des Literarischen Schreibens in der stets überfüllten Aula stattfand.

Inzwischen habe ich viele dieser Überlegungen in Nach allen Regeln der Kunst. Schreiben lernen und lehren (Insel-Verlag) zusammengefasst.

Küssen

Mein Kollege Hektor Haarkötter hat ein feines Buch über das Küssen geschrieben:

Küssen. Eine berührende Kommunikationsart. S. Fischer Verlag
Am vergangenen Samstag hatte er in einer Kulturdoku von 3sat (Just a kiss – eine Geschichte des Küssens) Gelegenheit, einige seiner Thesen auch optisch zu vertiefen:
Max Dauthendey (1867-1918) wiederum war so freundlich, das Küssen auch mit dem Sommer zu verbinden:

Nun ist es Sommer den ganzen Tag
Den ganzen Tag man nur küssen mag,
Und alle die Rosen die müssen
Satt duften zu unseren Füßen.

Nun bleibt es Sommer den ganzen Tag,
Den ganzen Tag ich im Himmel lag,
Dort tat man sich paarweise küssen
Und satt lag die Erde zu Füßen.

Nun ist es Sommer Nacht und Tag,
Und Nacht und Tag man nur küssen mag;
Von allen heißen Genüssen
Ist Anfang und Ende das Küssen.

Die Großen Ferien beginnen

(Am 14.07.2025 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Als Kind der fünfziger Jahre erinnere ich mich gut an die Zeiten der „Großen Ferien“. Schon der Gedanke daran euphorisierte, handelte es sich dabei doch um eine kleine Ewigkeit. Ein Ende war zu ihrem Beginn nicht in Sicht, und auch über ihren Verlauf wusste man nur, dass sie auf dem Land stattfinden würden.

Man musste also umsiedeln, oft zu Verwandten, die in ganz anderen Welten mit fremden Dialekten lebten, einen laufend verwechselten und deutlich spüren ließen, wovon man als Städter rein gar nichts verstand. Kühe auf der Weide hielt man für kaum durchschaubare Ungeheuer und blieb zu ihnen auf Distanz, und wenn man mit anderen Kindern im Wald unterwegs war, stellte einen jedes Hindernis vor eine sportliche Herausforderung. Man sollte natürlich, locker und unbekümmert sein, dabei war man all das gerade nicht, da man peinlich untrainiert war und die lästigen Themen und Sorgen der Stadt im Kopf hatte.

Das Gute an der Umsiedlung war höchstens, dass man die Klassenkameraden mit der Zeit vergaß. Eine Weile dachte man nicht mehr an sie, denn sie waren in ferne Ländereien entflogen und würden später mit lauter Geschichten zurückkehren, die sie für abenteuerlich hielten. Abenteuer hätten wir auf dem Land auch gerne erlebt, was zwischen Kornfeldern und Kuhweiden aber nicht einfach war.

Zu einem Abenteuer gehörten böse und gute Welten, deutlich getrennt und in fortdauernde Kämpfe miteinander verwickelt. Sie wurden von Anführern und Begleitfiguren bestritten, deren strenge Hierarchien wir nur aus Büchern kannten. Von einem solchen Dasein konnten wir nur träumen, was auf dem Land zu den Tätigkeiten gehörte, die von den Älteren nicht gerne gesehen wurden.

Geriet man nämlich ins Fantasieren und saß einige Momente apathisch und von Langeweile erschöpft auf dem Hof, bekam man zu hören, dass er noch nicht gekehrt war. Und trat man gegen einen Ball, um ein kurzes Training zu absolvieren, wurde uns erklärt, dass wir unsere zukünftige Existenz nicht durch Fußballspielen bestreiten könnten. Fußballspieler fuhren unanständig teure Autos und lebten schwer überdreht, wir aber sollten uns ein Vorbild an der Schlichtheit des Landes nehmen, wo Fußballvereine in ihren Ligen schon aus Prinzip nicht aufstiegen, sondern jahrzehntelang im Mittelfeld geduldig verharrten.

Um diese Schlichtheit zu bewahren, hielt sich auch das Unterhaltungsangebot des Landes in Grenzen. Ein Grundgesetz schrieb vor, dass Kinder „sich selbst beschäftigten“ und keine Flausen im Kopf hatten. Übersetzt bedeutete es, dass wir eine Freude am Nichtstun und kleinen, unschuldigen Spielen entwickeln sollten. Aus winzigen Stöcken ließen sich Schiffchen und Boote formen, die man in den dafür vorgesehenen Bächen stundenlang um die Wette treiben ließ. Und aus größeren Ästen konnte man Baumhäuser und Hütten bauen, deren Bestandteile sich beim nächsten Sturm in alle Winde verstreuten und darauf warteten, wieder eingesammelt und erneut zusammengebaut zu werden.

Noch begriffen wir nicht, was es bedeutete, dass die Zeiterfahrung auf dem Land eine zyklische war, die sich den Jahreszeiten anpasste. Und noch hatten wir kein Empfinden dafür, dass wir in den Großen Ferien die Schönheit der Zeitlosigkeit erlebten. Ahnungslos bewegten wir uns in den vormedialen Zeiten auf nachrichtenarmen Inseln, auf denen die Tiere in der Luft und auf den Feldern einen irritierenden Zauber ausstrahlten und jeder Schrei eines Raubvogels wie ein dämonisches Kreischen erschien.

Mit den Jahren wurde uns das alles zu viel, und man konnte uns nicht mehr auf das Land locken. Stattdessen blieben wir in den überhitzten Städten und überließen das Unterhaltungsprogramm den Taschenradios. Es bestand vor allem aus Sport, Werbung und Wettervorhersagen, und wir waren stolz, an jedem Tag „auf dem neusten Stand“ der Dinge zu sein. Bis der Klimawandel uns wieder aufs Land reisen ließ, gnadenlos belehrt und bescheidener geworden.

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, ich wünsche Ihnen erholsame SommerFerien, wo und wie auch immer.

Paul Klees „Angelus Novus“

„Geschichte der Gegenwart“ ist ein interessantes Feuilleton, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Themen der Zeit vertieft diskutieren. In diesem Sommer wird man dort Bildbetrachtungen lesen, in denen jeweils ein einziges Bild untersucht und erläutert wird.

Den Anfang macht mein ehemaliger Hildesheimer Kollege Sandro Zanetti, der heute in Zürich lehrt. Er schreibt über ein Bild von Paul Klee, „Angelus Novus“.

Hier findet man den Zugang zu seinem Text:

https://geschichtedergegenwart.ch/der-blick-nach-rechts-von-uns-paul-klees-angelus-novus-1920/

Woher wir kommen

Im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien läuft seit dem 24. April 2025 eine interessante Ausstellung, deren Titel die Themen vorgibt: Woher wir kommen. 

Gezeigt werden ungewöhnliche Handschríften und Lebensdokumente aller Art, die den Herkunftsraum von Schriftstellerinnen und Schrifstellern beleuchten. Die dadurch eingeleitete Spurensuche betrifft aber nicht nur Orte und Kindheitslandschaften, sondern untersucht auch die Lebenskonstellationen.

So weit gefasst, lassen sich die Fragen an die Besucherinnen und Besucher weiterleiten, die aufgefordert sind, die Geschichte ihrer eigenen Lebenshorizonte zu erkunden: Wie sah die Welt aus, in der ich groß wurde? An welche Menschen, Dinge, Klänge, Bilder, Speisen erinnere ich mich? Wie habe ich sie als Kind gesehen oder gehört? In welcher Begleitung?

Solche Fragen werden vor allem durch autobiografische Texte eingefangen, zu deren Fixierung die Ausstellung inspirierend anleitet.

https://www.onb.ac.at/museen/literaturmuseum/programm/woher-wir-kommen#c16460

Wer nicht nach Wien reisen kann, um die Dokumente vor Ort zu sehen, könnte sich in das Begleitbuch vertiefen, das, herausgegeben von Cornelius Mitterer und Kerstin Putz, im Zsolnay-Verlag erschienen ist:

Woher wir kommen. Literatur und Herkunft

20 mal Joseph Haydn

Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat zwanzig bekannte Autorinnen und Autoren zu einer „literarischen Sinfonie“ über Joseph Haydn (1732-1809) eingeladen.

Entstanden ist eine lockere Prosa-Galerie von Ansichten, Blicken und Umkreisungen, in denen sie ihre Nähe zu einem Komponisten entwerfen, der sich allen Genie-Stilisierungen entzogen hat und „als Person hinter seinem Werk beinahe verschwunden ist“. Gerade das, schreibt Sulzer weiter in seinem Vorwort, sei ein „idealer Ausgangspunkt“ dafür, Haydn literarisch frei und neu zu erfinden.

Und so liest man Haydn-Variationen von Alfred Brendel, Franz Hohler, Daniel Kehlmann, Eva Menasse, Peter Nádas, Elke Schmitter und anderen, unter denen auch ich mir die Aufgabe stellte: „Wie ich von Joseph Haydn erzählen könnte…“ (S. 63-74).

Erschienen ist das Ganze in einer schön ausgestatteten Ausgabe der anderen Bibliothek („gestaltet und ausgestattet vom studio-lindhorst-emme+hinrichs, Berlin“).

Diese Lektüren könnte man weiterführen und beleben mit den Haydn-Interpretationen der Pianistin Schaghajegh Nosrati, die gerade erschienen sind.
Damit verbunden, wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein Haydn-inspiriertes Wochenende!