(Am 01.08.2025 auch als Kolumne im Kölner Stadt-Anzeiger, S. 4)
Wenn ich mit meinen älteren Freunden unterwegs bin, gelangen wir im Gespräch oft an den Punkt, an dem wir innehalten und darauf zu sprechen kommen, wie sehr wir aus der Zeit gefallen sind. So nämlich fühlen wir uns im Vergleich mit den jungen Menschen, die in ganz anderen Welten leben. Sie bestehen vor allem aus digitalen Social Media-Szenen, bei denen es nicht auf Texte, sondern auf die verblüffende Leuchtkraft der Inszenierungen ankommt. Die nehmen auch wir gerade noch zur Kenntnis, verpassen aber die dahinter verborgenen kleinen Signale, die man nur durch Mitgliedschaft in den Jugendclubs der Musik- und Trenddebatten erwirbt.
Hinzu kommt, dass diese Szenen global und damit sehr weit angelegt sind. Der jugendliche Erfahrungsraum besteht nicht mehr aus Haus, Straße und Wohnort, sondern aus interkontinental entworfenen Bezügen, die durch Kontakte und Freundschaften entstehen. Hanna geht noch zur Schule, hat von Abdel aber längst erfahren, wo sie im nächsten Sommer in Algerien als Aushilfskraft arbeiten kann. Vielleicht reist sie auch in den fernen Osten, das hängt von kleinen Zufällen ab, zum Beispiel davon, welche Instagram-oder Chat-Connections dorthin sich als beständig erweisen.
„Kind, was willst Du denn in Algerien oder dem fernen Osten?“, fragt mein Freund Georg, erhält aber keine richtige Antwort. Eher ist Tochter Hanna erstaunt darüber, dass sie so etwas überhaupt gefragt wird. Algerien liegt schließlich gleich um die Ecke, und den fernen Osten kennt sie schon aus Fotos, die in großer Zahl durch die digitalen Kanäle hasten und Erlebnisreiseziele vermitteln.
Hanna ist eben eine Weltbürgerin, sagt ihre Mutter, was Hanna für typischen Alters-Kappes hält. Weltbürger nannte man früher Menschen, die nicht richtig wussten, wohin sie gehörten. So eine Heimatlose ist Hanna aber gerade nicht, eher ist es so, dass sie ihr bescheidenes Zuhause laufend transzendiert. Sie belässt es nicht bei seinen übersichtlichen Maßen, sondern träumt in virtuellen Fantasien von der Weite, ohne die Entfernungen als Hindernis zu betrachten.
Solche Hindernisse gibt es nicht mehr, die Jugendsprache besteht aus einem geläufig gewordenen Englisch, und Hanna spricht längst noch zwei weitere Fremdsprachen, nicht perfekt, aber so, dass sie sich mit anderen Jugendlichen in diesen Sprachen unterhalten kann. So lebt sie in einer ununterbrochenen Nähe zu den Anderen, die gar keine Anderen mehr sind. Nach wenigen Minuten hat sie sich mit ihnen verständigt, und genau das ist entscheidend. Verständigung auf Grund einer tief empfundenen Gemeinsamkeit, die durch das Netz hergestellt wird und sich durch jeden Klick bestätigen und auffrischen lässt.
Meine älteren Freunde macht dieses Klicken und Dabeiseinwollen atemlos, sie haben es aufgegeben, irgendwie mitzuhalten. Die technischen Details lassen sie sich gerne erklären, aber deren Kenntnis bedeutet nicht viel. Im Netz begibt man sich in ominöse Zugehörigkeiten, deren Regeln nirgends stehen und immer neu und gegenwärtig ausgetauscht werden. „Im Grunde ist das weltweites, großes Theater“, sagt Georg, das Dumme sei nur, dass es keine vorgegebenen, bekannten und vertrauten Rollen mehr gebe. Regisseure gebe es auch keine mehr, denn die Rituale der Verständigung führten eigenständig Regie, nicht böswillig, sondern spontan und punktuell, aus sich heraus, über die Köpfe der Älteren einfach hinweg.
„Und was bleibt uns?“, fragen meine Freunde. „Die Jungen transzendieren, nun gut, wir aber regredieren von Tag zu Tag mehr. Längst leben wir wieder in Welten, die wir in der Kindheit kennenlernten und überwunden zu haben glaubten. Es sind die des kalten Krieges, der Supermächte und der harten Drohungen. Der alte Donald hat uns gerade wieder einen Strick daraus gedreht: Zölle hoch oder Geld her, und wenn alles nichts hilft, ziehen wir den Verteidigungsschirm ab und setzen ihn gewinnbringend anderswo ein, zum Beispiel in Algerien oder dem fernen Osten.“