Der literarische Herbst beginnt 1

Heute beginnt der literarische Herbst 2020! Früher war dieser Montag der erste Tag der Buchmessenwoche in Frankfurt, in diesem Jahr fällt die Präsenz der Verlage in den Messehallen aus den bekannten Gründen aus.

Für die interessierten Leserinnen und Leser ist das aber nicht unbedingt ein Nachteil, schließlich ist nur ein geringer Prozentsatz nach Frankfurt aufgebrochen, um die Messe live zu erleben. Und was erlebten sie da? Volle Gänge, Verlagskojen, in denen sich vor allem die Mitarbeiter der Verlage begegneten und austauschten – und einige Bühnen, wo Autorinnen und Autoren zum Gespräch gebeten wurden (und wo oft kaum ein Wort zu verstehen  war). Ein wirkliches Vergnügen war das nie, vielmehr konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Messe ein großes Ereignis für die Verlage, nicht aber für die Leserinnen und Leser ist.

Die eigentlichen Höhepunkte waren denn auch die abendlichen Verlagseinladungen, zu denen vor allem Presse- und Medienleute geladen waren. Daraus entwickelte sich ein richtiger Sport: Wer schafft an einem Abend den Besuch möglichst vieler Verlagsmeetings? Welche sind die originellsten: die protzigen Haute Cuisine-Einladungen im Frankfurter Hof oder die eher verträumten Kaffee-und-Kuchen-Arrangements im Hessischen Hof oder gar die eher rustikalen in einer Äppelwoi-Schenke in Sachsenhausen? Wer mehrere Einladungen hintereinander besuchte, war oft die halbe Nacht bis in den frühen Morgen unterwegs und traf dann gegen zehn oder elf Uhr am nächsten Morgen auf dem Messegelände ein, um dort auf die ziehenden Scharen der stocknüchternen Leserinnen und Leser zu treffen.

Da solche Begegnungen diesmal ausfallen, konzentrieren sich Verlage und Medienmaschinerien diesmal auf die digitale Präsentation der Messe. Und die war noch nie so umfangreich und interessant wie in diesem Jahr! Ein Glück für alle Leserinnen und Leser, die sowieso nicht nach Frankfurt gefahren wären und sich nun vieles von zu Hause an anschauen können!

Meine Empfehlung: Auf www.buchmesse.de starten und sich genau dort umschauen: Was sehe ich ab heute und in den nächsten Tagen?

Das Großangebot dann durch kleinere Angebote ergänzen, zum Beispiel durch die des SPIEGEL: www.spiegel.de/buchwoche

Ich wünsche viel Vergnügen und melde mich in dieser Woche mehrmals mit Hinweisen und Kommentaren.

 

 

Twittern im Frühherbst 2

Kaum habe ich einmal zehn Minuten (länger geht nicht) in Jan Böhmermanns Twitterbuch Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch. 2009-2020 (Kiepenheuer & Witsch) gelesen, haut mein anscheinend in einer Nebenrinde beherbergter Twitterspeed-Account einen Tweet nach dem andern raus. Ich kann nichts dagegen tun. Nur aufschreiben… – und dann mit Gewalt abdrehen…

Kaum dass ich in einem bestimmten, mir besonders lieben Ort angekommen bin, möchte ich ihn nie mehr verlassen. Das ist relativ neu. Was steckt bloss dahinter?

Wenn mich etwas sehr begeistert und ich einem Freund davon erzähle, er aber rasch  abwinkt, verlässt mich seit einiger Zeit sofort die Bereitschaft, mit ihm zusammen noch einen einzigen Schritt zu tun. Und was hat das nun zu bedeuten?

Seit einiger Zeit sehe ich hinter lauter Alltäglichem etwas Bedrohliches. Nein, mit Corona hat es nichts zu tun. Eher damit, dass mich anscheinend jemand warnen und auffordern möchte, in Kampflaune zu bleiben. Ich?! In Kampflaune?!! Seit wann denn das?

Spaghetti al pomodoro

Der Ernährungswissenschaftler Massimo Montanari hat ein kurzweiliges Buch über die bekannteste italienische Mahlzeit, Spaghetti al pomodoro, geschrieben.

Fast jeder glaubt dieses Gericht in all seiner Schlichtheit gut zu kennen, während Montanari seine lange Geschichte Stufe für Stufe auf verblüffende Weise entfaltet: Alles beginnt mit der Erfindung, Nudelteig platt zu walzen und in feine Bindfäden zu zerlegen. Anfänglich verschwinden sie noch unbeachtet in einem Eintopf. Später werden sie zum Hauptgericht einer Pasta, die danach mit den aus Mexiko importierten Tomaten und scharfen Chilischoten verbunden wird. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Gericht als Zugabe noch einen Schuss Olivenöl und wurde zu einem Symbol „mediterraner Diät“.

Spaghetti al pomodoro ist eine faszinierende Kulturgeschichte einer kleinen Mahlzeit, die nie besonders „italienisch“ war, sondern eher ein Gericht ist, das die Errungenschaften mehrerer Weltkulturen miteinander verbunden hat. Eine Appetit machende Lektüre, nach der man diesen Klassiker der Esskunst nicht nur besser verstehen, sondern auch noch intensiver genießen wird! Und nicht zuletzt ein ideales Geschenk, um sich für die Einladung zu einer Mahlzeit bei Freunden zu bedanken!

Massimo Montanari: Spaghetti al pomodoro. Kurze Geschichte eines Mythos. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Laschet, der Papst und Karl der Große

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Seit meine Freunde die Bilder vom Besuch Armin Laschets bei Papst Franziskus in Rom gesehen haben, besteht für sie nicht mehr der geringste Zweifel, dass er der nächste Kanzlerkandidat der Union sein wird. Wie er da in seinem dunklen Kommunionsanzug exakt auf Augenhöhe mit dem gut gelaunten Pontifex in dessen Privatgemächern vor einem leer geräumten Schreibtisch saß, erkannten alle, dass ihm das so schnell niemand nachmacht.

Natürlich sind die beiden tief ins Existentielle abgetaucht und haben sich dem naheliegenden Thema der neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ – wörtlich: Alle (sind) Brüder – gewidmet. US-Außenminister Pompeo hatte sich mit in den Brüderbund einreihen wollen, war aber nicht vorgelassen worden, schließlich befindet er sich – anders als Laschet – im Wahlkampf.

Ganz Staatsmann mit außenpolitischem Flair überbrachte der Aspirant auf den CDU-Vorsitz die Grüße seiner mutmaßlichen Vorgängerin Angela Merkel und beantwortete Fragen dazu, wie der Papst die innenpolitischen Debatten in der CDU bewerte, mit sokratischer Gelassenheit: „Der Papst weiß mehr, als wir glauben.“ Was wir in Deutschland momentan so alles glauben, spielt da keine Rolle, der Papst weiß es sowieso und zieht daraus seine Schlüsse.

Da Armin Laschet inzwischen mehr weiß, als er sagt, glaubt er fast sicher, dass der Papst seine Einladung nach Nordrhein-Westfalen annehmen wird. 2021 steht wieder die Wallfahrt zu den großen Aachenern Heiligtümern an. Schon zur Zeit Karls des Großen reisten die ersten Pilger in Laschets Geburtsstadt, und da Laschet ja wahrscheinlich von Karl dem Großen abstammt, könnten die Pilgerzüge als Teil seiner Krönung zum neuen Kanzlerkandidaten fungieren.

Das würde endlich mal wieder an die alte deutsche Geschichte erinnern, als Karl der Große noch „Europa“ war. Auf diesem europäischen Weg liegt Laschet meilenweit vor Politikern, die zum Beispiel aus Brilon stammen und in der Jugend, statt den Katechismus auswendig zu lernen, Tag und Nacht Gitarre gespielt haben. Laschet sang fleißig in einem Jugendchor.

In Rom könnte er Papst Franziskus versprochen haben, ihm nächstes Jahr im Aachener Dom den Thron zu präsentieren, auf dem dreißig deutsche Könige einst nach ihrer Krönung Platz nahmen. Der Pontifex soll schon jetzt sehr beeindruckt gewesen sein und eine weitere, dann auch an die weiblichen Brüder (besser bekannt als Schwestern) gerichtete Enzyklika in Aussicht gestellt haben: „Sorelle tutte“.

 

Blitzgeburten

Ich spüre sehr genau, in wenigen Sekunden, wenn ich von Musik, Malerei, einer Fotografie, einem Film oder einem Text angesprungen werde. Es ist eine plötzliche, heftige Inbesitznahme, als verliebte ich mich unerwartet in jemanden, der mir eigentlich sehr fremd ist.

Warum das so geschieht, weiß ich nicht. Ich kann dazu nichts sagen, höchstens soviel, dass es nichts mit den üblichen „Kenntnissen“ zu tun hat, die man sich aneignet und oft ins Spiel bringt, wenn es um Artefakte geht. Ich folge keinen Lobesworten anderer, und ich folge erst recht keiner didaktischen Aufgeblasenheit.

Es ist viel einfacher und schöner: Ich sehe hin, ich höre zu, ich lese – und es ist um mich geschehen. Ich bin „weg“, im Reich meiner Gefährten und Zauberer, die mich danach ein Leben lang nicht mehr loslassen werden.

Vielleicht wurde ich seit den Kindertagen auf unentdeckte Art durch solche Eruptionen geführt. Ohne sie zu begreifen oder mir länger zu vergegenwärtigen. Ja, es könnte sein, dass genau diese hinreissenden Blitzgeburten es letztlich waren, die mich vor allem am Leben erhalten haben.

Italien erfindet den Herbst und das Frühjahr

(Am 3./4. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Anna und Herbert sind nun doch in den italienischen Süden gereist, wohin sie eigentlich schon im Frühjahr reisen wollten. Erst jetzt haben sie es gewagt, da die Zahlen der Neuinfizierten relativ niedrig sind und sogar noch unter den Zahlen in Deutschland liegen. Zuletzt war das Freundespaar mindestens einmal im Jahr in Italien und glaubte eine Idee davon zu haben, wie man dort auf Corona reagiert. Nun aber lernen sie das Land und seine Menschen neu kennen, und viele alte Vorstellungen erweisen sich als überholt.

Denn anders als gedacht, begegnet man in den italienischen Geschäften und Läden keinen Nichtmaskierten. Verkäufer wie Kunden gehen mit den Masken so selbstverständlich um, als bräuchte man darüber keine Worte mehr zu verlieren. Auf den Straßen und an den Stränden sieht man viel seltener als früher größere Menschengruppen. Stattdessen bewegen sich die Spaziergänger zu zweit oder mit der Familie, aber auch solo. Ganz allein können jedoch viele nicht sein, und so hat das Smartphone eine noch größere Bedeutung als früher. Frauen wie Männer tragen es wie eine kleine Monstranz vor sich her, schauen auf das Videobild, mit dem sie sich unterhalten, und haben nicht die geringste Scheu, das auch temperamentvoll und laut zu tun.

Anna und Herbert haben eine solche Lautstärke auf den Straßen noch nie erlebt. Manchmal hat sie die Wucht eines dramatischen Monologs, und fast jeder hört sich so an, als ginge es um hochexistentielle Fragen. Die Themen sind aber eher alltäglich und schlicht, nur dass sie jetzt ausgereizt und bis an bestimmte Grenzen getrieben werden. Eine Spur von Wut und Isolation lauert hinter diesen Wortkaskaden, und nur die Schulklassen traben ruhig und fast ergeben durchs Freie, weil die Lehrer jede Sonnenstunde nutzen, um Unterrichtsstunden in Klassenzimmern zu vermeiden. Im Freien finden sich auch viele Gläubige ein und erleben dort auf den Plätzen rund um die Kirchen Gottesdienste, die lautstark aus dem fast leeren Inneren nach draußen übertragen werden.

Der vorgeschriebene Mindestabstand beträgt nicht wie in Deutschland 1,5 Meter, sondern nur einen Meter – was letztlich dazu führt, dass es keinen gibt. In öffentlichen Gebäuden und den Einkaufszonen achtet man noch darauf, nicht aber in den Restaurants, wo Grenzen und Separierungen von Tisch zu Tisch einfach unmöglich erscheinen. Anfänglich winkt man sich noch zu, dann aber springen die vertrauten Funken rasch wieder über, und die Tischbesatzungen wechseln und mischen sich.

Die mit monatelanger Verspätung begonnene Sommersaison an den Stränden ist nun zu Ende. Plexisglasscheiben zwischen den Strandliegen hat es zum Glück nicht gegeben, stattdessen hat man einfach jeden Quadratmeter genutzt und mehr Liegen als früher streng in Reih und Glied mit kaum merklichen Abständen aufgestellt. Erstaunlich viele Herbstfestivals mit Lesungen, Theater, Film und Musik werden bald im ganzen Land stattfinden, die Filmfestspiele in Venedig haben Mut gemacht, und der morgige Start des Giro d’Italia in Sizilien wird noch mehr Mut machen.

Auch die Medien bemühen sich um die gute Laune von früher. Anna schickte mir Fotografien von den vielen Seiten, auf denen in den Zeitungen die neuste Mode für Frauen und Männer in aufwendigen Fotografien und Skizzen vorgestellt wird. Strahlendes Weiß ist die Farbe der Saison, notierte ich mir, Weiß und lange Hosen aus Naturstoffen – bis ich bemerkte, dass es längst nicht mehr um den modischen Herbst geht. In Italien entwirft man vielmehr die Trends des kommenden Frühjahrs, und wenn man der Sehnsucht wieder Raum lässt, könnte man sich eine Zeit des Aufblühens vorstellen: grelle Monochromien mit winzigen Blütenmotiven.

Mondenkind

Michael Wollny ist ein Pianist, dessen neue Alben ich (eine Wendung von Roland Barthes aufgreifend…) „über die Maßen“ gern höre.

Vor wenigen Tagen ist Mondenkind erschienen, und Wollny hat in einem Interview davon erzählt, wann, wo und wie dieses Album entstanden ist: Im April 2020, in den Berliner Teldex Studios, in denen er, ohne direkten oder nahen Kontakt zu anderen Personen, allein an seinem Konzertflügel saß. Es war der April, als die Berliner Straßen noch leer waren, kaum Menschen unterwegs, selbst in der Hotelrezeption begegnete Wollny niemandem.

Er fühlte sich dem Astronauten Michael Collins nahe, der mit Apollo 11 den Mond umkreiste, während seine Kollegen Neil Armstrong und Edwin Aldrin den Planeten betraten. Collins sei ein gutes Beispiel für einen „radikalen Solisten“ gewesen, sagt Wollny, und genau das habe er in seiner Musik spiegeln wollen: „das Alleinsein, diese Solitude, diese Meditation“.

Am Ende des Interviews wird er gefragt, ob er mit der neuen CD zufrieden sei. Er macht noch einen kurzen rhetorischen Schlenker, dann aber sagt er, völlig überraschend: „…im Moment der Aufnahme war sehr viel stilles Glück. Wenn ich die Aufnahme heute höre, kehrt dieses Gefühl zurück.“

Auch die Hörer werden davon etwas erleben. Und vielleicht hier, in dieser Nummer, die Bezüge zum stillen Glück in Robert Schumanns Klavierkompositionen erleben…

 

Twittern im Frühherbst

Hier – weiter streng im Rahmen dieses Blogs (vgl. den Eintrag vom 17.09.2020) – ein zweiter Twitter-Versuch:

Die Turteltaube ist der Vogel des Jahres 2020. Im Italienischen heisst sie La Tortora. Vivaldi komponierte ein Stück mit diesem Titel. Martin Fröst hat es gerade auf der Klarinette eingespielt.

In meinen Gärten – Rudbeckien

Für die Dauer etwa einer Woche springen ihre sonnigen Blüten alle zugleich auf, drängen sich dicht zusammen und bilden ein herbstlich getöntes Feld von gelb- und orangefarbenen Schirmen, deren Blütenblätter einen kreisförmigen, dunkleren Zentralpunkt umspielen.

Sie sind ein letztes Aufgebot glühender Farben. In fernen Räumen rauschen und wehen sie auf hohen Wiesenkuppen, um das Wogen des nahen Meers auszuleuchten.

Ein Meer im Kleinen sind sie selbst, den zunahe tretenden Schatten entflohen, Lichtsauger der tief stehenden Sonne, deren Würze sie konzentrieren und später mit in feine, duftende Salben verwandeln.

(Mein Buch In meinen Gärten und Wäldern erscheint Anfang Oktober in der DVB Mainz.)

Charaktere 4 – Der Brombeerpflücker

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast (am besten liest man sie in der schmalen Ausgabe des Reclam-Verlages, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Dietrich Klose) sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Die dreißig kurzen Texte gelten Figuren wie etwa „dem Redseligen“, „dem Bedenkenlosen“, „dem Gerüchtemacher“ oder „dem Spätgebildeten“. Theophrast seziert nicht ihre Psyche, sondern zeigt, wie und woran man sie erkennt. So erzählt er von ihrem Tun und Lassen bis in die Details ihrer Selbstdarstellung. Sein Büchlein wurde dadurch auch zu einem Grundlagenbuch für Epiker und Dramatiker, die erfuhren, wie man einzelne Figuren vorstellt und entwickelt.

Ich folge Theophrast und schreibe selbst eine kleine Erzählung, die sich an seine Manier anlehnt:

Der Brombeerpflücker

Er liebt Früchte. Wenn er spazierengeht, entdeckt er sie überall. Mirabellen, Himbeeren, Johannisbeeren. Brombeeren mag er am liebsten, und so sieht man ihn im Spätsommer an den Straßenrändern und Waldlichtungen dort, wo Brombeersträucher in großen Inseln wuchern.

Er hat eine alte Milchkanne seiner längst gestorbenen Mutter dabei und lässt die gepflückten Beeren in das tiefe Verlies gleiten, dessen Anblick eine Geruchsassoziation auslöst. Es riecht nach dem Mutterparfüm, einem herbschweren Duft, dessen Namen er noch immer nicht kennt. Die tiefschwarzen Beeren verschwinden im Dunkel und verdichten sich allmählich zu einem Bau aus mehreren dicht aufeinandersitzenden Lagen, die er später mit einem Emaildeckel verschließt.

Er pflückt immer soviel, bis der Topf gefüllt ist. Dann ummäntelt er ihn mit einem langen Kniestrumpf und befestigt ihn auf dem Rücksitz seines Fahrrads. Er steigt nicht auf, sondern schiebt das Rad neben sich her, den wie eine Monstranz aufgebahrten Schatz im Auge. Die Passanten schauen ihm nach, denn zusammen mit seinem Rad und der umwickelten Kanne hat sein Auftritt etwas von einer Prozession.

Was ist drin in dem Heiligtum, das er neben sich herschiebt? fragen sich viele und beginnen zu flüstern: Ein Tier? Eine Kostbarkeit? Oder gar Munition? Wenn er gegrüßt wird, nickt er kurz, antwortet aber nicht. Er geht langsam, Schritt für Schritt, vorsichtig, als wäre er auf der Hut. Ist ein Ast im Weg, streicht er ihn mit der Hand zur Seite wie einen Vorhang, der sich nach der Öffnung rasch wieder hinter ihm schließt. Beginnt es zu regnen, geht er ungerührt weiter und duldet regungslos, dass die Tropfen seinen Kopf einnässen.

Zu Hause schiebt er das Fahrrad in den Hinterhof, schließt es ab, greift nach der Kanne und trägt sie in seine Küche. Er befreit sie von ihrem Mantel, öffnet sie und lässt den ausströmenden Duft überall eindringen: in seine Kleidung, die Küche und den Flur, wo sich die Duftsphären in der Ablage festsetzen, genau dort, wo er seit dem Tod der Mutter noch ein letztes ihrer Kleider aufbewahrt. Es ist lang und schwarz und hängt auf einem hellen, geschwungenen Bügel. Eine Kette mit Granatschmuck funkelt wie ein Reif auf dem Oberteil.

Einen Teil der Brombeeren isst er gleich am Abend. Den Rest kocht er ein und verzehrt ihn im Winter, morgens zum Frühstück, begleitet von duftenden Zimthörnchen, von denen er jeden Morgen welche vom nahen Bäcker holt. Er trennt sie durch und legt sie nebeneinander zu einer Parade auf ein Holzbrett. Dann bestreicht er die Hälften langsam mit der Brombeermarmelade und trinkt während des Frühstücks dazu einen besonders starken Kaffee.

Bis zum Mittag nährt ihn das, und erst, wenn er sich auf eine andere Mahlzeit einlässt, stirbt langsam der intensive Geschmack, der sein Leben grundiert und trägt.