Ortheil live in WDR 5

Heute bin ich von ca. 11.05 Uhr bis 11.30 Uhr live in der Sendung Neugier genügt von WDR 5 zu hören. Ich unterhalte mich mit Julia Schöning.

Hier auch abrufbar in der Mediathek von WDR 5:

https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-hanns-josef-ortheil-100.html

 

Domgeschichten

Jahrhunderte alte Kirchen sind mit der Geschichte ihrer Städte und Ortschaften eng verbunden. Sie sind mehr als sakrale Räume, in denen Gottesdienste stattfinden. Von vielen Bewohnern werden sie auch gelegentlich aufgesucht, für einen Rundgang oder auch nur für ein paar Minuten, in denen man in ihnen zur Ruhe kommt. Durch solche Besuche erhalten sie einen privaten Status und werden zu einem Teil der alltäglichen Lebenswelten, in denen sich Menschen bewegen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Kölner Dom für mich ein derart erlebter Raum ist. Es gab sogar eine Zeit, in der ich nicht an ihm vorbeigehen konnte, ohne ihn zumindest kurz zu besuchen und mich in ihm aufzuhalten. In meinem autobiografischen Roman Die Erfindung des Lebens habe ich von den sonntäglichen Spaziergängen erzählt, die meine Eltern und mich während meiner Kindheit am Rhein entlang zum Dom führten. Zogen sich die Gottesdienste hin, langweilte ich mich. Dagegen gab es jedoch ein Mittel: Ich schaute mir ein Glasfenster, eine Skulptur oder sonst ein Detail des Domes länger und genauer an. Zu manchen entwickelte sich dadurch eine persönliche Nähe. Sympathien entstanden, und ich ertappte mich als Kind manchmal dabei, dass ich mich mit bestimmten Figuren sogar heimlich unterhielt.

Daran musste ich denken, als ich die Domgeschichten las, die Barbara Schock-Werner (von 1999 bis 2012 Dombaumeisterin und Leiterin der Dombauhütte) erzählt. Sie picken sich jeweils ein Detail des Domuniversums heraus, gehen seiner Herkunft oder Entstehung nach – und tun das nicht mit einem kunsthistorischen Gestus, sondern so, dass man als Leser sofort versteht, in welcher Verbindung es zu seiner Erzählerin steht.

Eine weiße Mosaikhand am südlichen Domportal, eine fast hundert Jahre alte Feuerwehrleiter in der Nordturmhalle, die mittelalterliche Bauzeichnung der Westfassade im Chorumgang – das sind Details, die aufmerksame Besucher wahrnehmen, ohne sich ihr Erscheinen aber genauer erklären zu können. Den Staunenden springen die Geschichten von Barbara Schock-Werner bei, nicht besserwisserisch oder belehrend, sondern in einem unaufgeregten, sympathischen, hilfreichen Plauderton. Joachim Frank, Chefkorrespondent des Kölner Stadtanzeigers, hat sie aufgezeichnet und den privaten Ton genau getroffen. In seiner Zeitung sind viele der Geschichten zuerst erschienen und haben die Leserinnen und Leser fortlaufend mit dem notwendigen Domfeeling versorgt.

Jetzt gibt es sie auch als Buch (Dumont Buchverlag), ergänzt durch Fotografien von Csaba Peter Rakoczy, ausgestattet mit Plänen und Literaturhinweisen, die weiterführen.

Ich hab meine Freude an diesen Domgeschichten. Manchmal habe ich versucht, die Illusion durch eine Orgelimprovisation des Domorganisten Martin Meyer zu vertiefen: als befände ich mich vor Ort und sähe und hörte Szenen aus meinen Kinderjahren.

Charaktere 2

Die Charaktere des griechischen Dichters Theophrast (am besten liest man sie in der schmalen Ausgabe des Reclam-Verlages, griechisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Dietrich Klose) sind schon seit langem eine meiner Lieblingslektüren. In ihnen wurden zum ersten Mal in der europäischen Literatur einzelne Typen des sozialen Lebens genau beobachtet und „charakterisiert“.

Die dreißig kurzen Texte gelten Figuren wie etwa „dem Redseligen“, „dem Bedenkenlosen“, „dem Gerüchtemacher“ oder „dem Spätgebildeten“. Theophrast seziert nicht ihre Psyche, sondern zeigt, wie und woran man sie erkennt. So erzählt er von ihrem Tun und Lassen bis in die Details ihrer Selbstdarstellung. Sein Büchlein wurde dadurch auch zu einem Grundlagenbuch für Epiker und Dramatiker, die erfuhren, wie man einzelne Figuren vorstellt und entwickelt.

Ich folge Theophrast und schreibe eine kleine Studie in seiner Manier. Sie gilt dem „Enthusiasten“.

  • Der Enthusiast schwingt die Flügel der Einbildungskraft. Mit ihrer Hilfe fliegt er in Richtung zukünftiger Ländereien, die er unbedingt verwirklicht sehen möchte.
  • Spricht er von ihnen, gerät er in einen Rausch. Glühend vor Begeisterung, malt er die Zukunft aus.
  • Wendet man dies oder das gegen sein Schwärmen ein, reagiert er empfindlich, oft sogar beleidigt.
  • Seine Träume gehören anfänglich nur ihm, so solitär sind sie gebaut. Verwirklichen will er sie aber mit anderen, von denen er umstandslos annimmt, dass sie ebenfalls Enthusiasten sind.
  • Nichts verabscheut er so sehr wie Bedenkenträger oder Menschen, die jeden Schwung durch Einwände ausbremsen.
  • Hat er sich einem Ziel verschrieben, verwendet er allen Eifer, es zu verwirklichen, bis hin zur Selbstaufgabe.
  • Durch seine starke Empfindlichkeit saugt er von allen Seiten Begleitung an: Bilder, Musik, Tanz – alles, was ihn auch nur entfernt berührt, nimmt er auf seinen Ritten und Wegen mit.
  • Kappen böse oder finstere Mächte seinen Lebensernst, klappt er zusammen und regt sich nicht mehr.
  • Er ist und bleibt ewig jung. Nicht einmal vorstellen kann er sich, dass er altert oder seine Pläne etwas Gestriges haben könnten. In seinen Augen sind sie die Glanzlichter einer besseren Zeit.
  • Gerät er einmal außer sich, weil ihn sein großer Schwung fortträgt, lädt er alle rasch zum Essen und Trinken ein. Sein finaler Traum ist das große Fest.

Wohin ich reisen würde/werde 2

Schon bald können wir wieder nach Frankreich, Italien, Spanien oder Griechenland reisen. Höchste Zeit also, bestimmte Reiseziele zu orten und mit der Vorbereitung zu beginnen.

Durch einen Hinweis von Nicolas Freund in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Mai 2020 bin ich auf ein wunderbares Detail aufmerksam geworden, das die Jugendjahre von Ernest Hemingway in Paris erhellt. Es steht in engem Zusammenhang mit Details meines Paris-Buches Paris, links der Seine (Insel Verlag).

Dort bin ich auch in der Rue de L’Odéon unterwegs, in der sich vor hundert Jahren die berühmte Buchhandlung Shakespeare & Company befand. Sie gehörte damals der Buchhändlerin Sylvia Beach und war vor allem für die jungen amerikanischen und britischen Autoren eine wichtige Anlaufstelle, um sich englischsprachige Literatur auszuleihen.

Sylvia Beach hat in ihrem Erinnerungsbuch Shakespeare & Company. Ein Buchladen in Paris (Suhrkamp Verlag) davon erzählt. Ihr, wie sie schreibt, „bester Kunde“ war der junge Ernest Hemingway, dem sie ein besonders liebevolles Porträt widmet. Bescheiden und ernsthaft sei er gewesen, häufig habe er sich in einen verlorenen Winkel zum stillen Lesen zurückgezogen.

Die Princeton University hat nun die Karteikarten ins Netz gestellt, die Sylvia Beach führte. Auf digitalen Wegen kann man daher Hemingways Ausleihen studieren, Buch für Buch. Alle paar Tage ist er aufgetaucht und hat sich Bücher mitgenommen: Gustave Flauberts Romane, Thomas Manns Buddenbrooks, aber auch Lyrikbände und philosophische Fachliteratur neben Reiseerzählungen und Abenteuerbüchern.

https://shakespeareandco.princeton.edu/members/hemingway/cards/

Man erkennt deutlich das Leseverhalten eines lesehungrigen und noch nicht auf bestimmte Themen und Autoren fixierten jungen Mannes, der weit gestreute Interessen hat, hochgradig neugierig ist und sich die Welt lesend erobern will.

Ja, auch das ist Hemingway! Ein Forscher und Mitdenker, einer, der Orientierungen sucht! So hatte ich ihn vor Augen, als ich selbst durch Paris streifte. Im letzten Kapitel meines Paris-Buches habe ich davon erzählt. Da sitze ich auf der Terrasse des Café Contrescarpe auf der Place Contrescarpe.

Und genau dort werde ich bald wieder sitzen und Hemingways Paris-Skizzen (Paris, ein Fest fürs Leben) sowie Sylvia Beachs Erinnerungen lesen und lesen und lesen…und meinen Freund Helmut Moysich zu einer Flasche Weißwein einladen…

Interludium an Christi Himmelfahrt

  • Der Text: Lukas-Evangelium (Schluss), 24, 50ff.: Er führte sie aber hinaus bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.
  • Die Bilder: Das Fest Christi Himmelfahrt (Festa della Sensa) wurde in Venedig groß gefeiert. An diesem Tag fuhr der Doge im Bucintoro zum Lido, um sich mit dem Meer zu vermählen.

https://www.youtube.com/watch?v=b1x9Zpg0nqo

  • Die Musik: Johann Sebastian Bach: Himmelfahrtsoratorium

Lavendel

Selbst an kühlen Tagen ist er lockend präsent und entwirft Fluchten von kleinen Sträuchern, die sich an den Rändern eines Beetes entlang orientieren und wie silbriggraue Landschaften erscheinen.

Sie schimmern, leuchten oder ermatten zu pastosen Wolken, und wenn man sie wahrnimmt, glaubt man sofort, ihren Duft in der Nase zu spüren.

Etwas Helles, Parfümiertes, Sinnenaufreissendes, Lockendes…, das überall eindringen und sogar Innenräume füllen und besetzen will.

Fährt man, so mitgenommen, mit den Fingern an ihren Zweigen entlang, spürt man die Festigkeit und den Widerstand biegsamer Nadeln. Sie lassen sich weder bewegen noch zupfen und rupfen.

Einen Moment lang ducken sie sich – und schnellen dann wieder empor.

Wonach sie verlangen – das wäre eine Rasur, ein lockeres Kappen von Spitzen und übertriebenem Wuchs, das ihr androgynes Dasein gestalten und vorbereiten würde auf die Gala in Sommer und Herbst: mit blauen und violetten Blüten!

Was ich (bald) lesen werde 1

Die Buchhandlungen sind längst wieder geöffnet, und die Verlage verschicken gerade ihre neuen Programmvorschauen für den Herbst 2020.

Das sind spannende Zeiten, denn jedes neue Programm entsteht nach langen internen Gesprächen und komponiert das aktuelle Verlagsprofil. Hier wird nicht ein Buch ans andere gereiht, sondern ein Ideengeflecht präsentiert, in dem die Leserinnen und Leser ihre Themen und Interessen erkennen sollen.

Die Programmvorschauen des Wagenbach Verlages in Berlin verfolge ich seit vielen Jahrzehnten. Aus dem neuen Angebot picke ich ein Buch heraus, das ich bestimmt lesen werde: Massimo Montanaris Spaghetti al pomodoro. Kurze Geschichte eines Mythos.

(https://www.wagenbach.de/buecher/demnaechst-erscheinen/titel/1252-spaghetti-al-pomodoro.html)

Montanari leitet an der Universität Bologna einen Studiengang für europäische Ernährungsgeschichte (auch eine attraktive Aufgabe für mein zweites Leben…). Er untersucht die Entstehung bestimmter Speisen vor dem Hintergrund kulturgeschichtlicher Umwälzungen. Spaghetti al pomodoro ist dann nicht nur ein bekanntes Pasta-Gericht, sondern das Ergebnis einer Reihe von kleinen Erfindungen und Zutaten, die verschiedene Kulturen im Laufe von Jahrhunderten zu seiner Kreation beigetragen haben.

Solche Forschungen sind gastrosophische Entdeckungsreisen, die unsere Ernährung nach ihren Wurzeln befragen und uns verdeutlichen, was wir genießen, indem wir essen und trinken: Nicht ein simples Gericht, sondern ein artifizielles Ereignis!

Wohin ich reisen würde/werde

Heute begibt sich Chefdiplomat Heiko Maas in eine Videokonferenz mit zehn Außenministern unserer besonders geliebten Urlaubsländer, um darüber zu beraten, wie wir Sommerferien auf einem Bauernhof in Kleindaddelbach vermeiden und stattdessen nach Frankreich, Italien, Spanien oder Griechenland reisen. Höchste Zeit also, Reiseziele zu orten und mit der Vorbereitung zu beginnen.

William Turner (1775-1851) ist einer meiner Lieblingsmaler. Besonders haben mich die Techniken beschäftigt, mit denen er seine größeren Bildentwürfe konzipierte. Turner arbeitete nämlich mit Skizzen und Studien, von denen sich auf vielen losen Blättern fast zwanzigtausend erhalten haben. Beinahe täglich hielt er Eindrücke von Städten, Landschaften und Menschen fest – und das oft so flüchtig, dass auf ihnen lediglich einige starke Farbakzente zu erkennen sind.

Dadurch ist William Turner einer der ersten abstrakten Maler geworden, der für die Techniken des angedeuteten Konzepts Orte und Räume suchte, die für dieses Skizzieren besonders geeignet waren. Einer von ihnen war Venedig, dessen Wasserfarben einen Unter- und Hintergrund für die aufliegenden horizontalen Schichtungen von Küsten und Wolken boten.

In meinem Roman Im Licht der Lagune habe ich die Geschichte eines jungen Zeichners und Malers erzählt, der im Venedig des späten 18. Jahrhunderts ein Vorläufer Turners ist. Seine malerischen Studien führen ihn zur abstrakten Malerei, die Turner als erster auch öffentlich in Szene setzte.

Dessen Vorstudien und lose Blätter sind in der wunderbaren Ausstellung Turner. Peinture et aquarelles des Musée Jacquemart-André in Paris zu sehen. Ursprünglich sollte sie nur bis zum 20. Juli 2020 gezeigt werden, sie wird aber verlängert. Also: Nichts wie hin!

Als Einstimmung für Zuhause empfehle ich J.M.W. Turner: Wolken. Das Skizzenbuch „Skies“, das 2019 im Hirmer Verlag, München erschienen ist. Mit seiner Hilfe kann man Turners Arbeitsweise minuziös studieren.

Mich haben viele der Skizzen noch stärker beeindruckt als die sich anlehnenden Bilder und Gemälde. Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst mein Leben lang so gearbeitet habe: skizzierend, andeutend – und darauf aufbauend: einen Werkzusammenhang entwerfend.

Italien-Ekstase

Was war das für eine Freude gestern! Italien öffnet seine Grenzen ab dem 3. Juni! Wir dürfen wieder einreisen! Venedig, Rom, Sizilien sehen! In italienischen Bars einen Caffè trinken, in einem italienischen Ristorante in Meeresnähe zu Mittag essen!

Wir waren außer aus, ektstatisch wie lange nicht mehr! Und legten los:

Ein Rückblick auf die Coronawende

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Zwei Monate nach Beginn der Coronazeiten lohnt ein erster Rückblick. Wie hat sich das Fühlen und Denken der Menschen in meiner Nähe verändert?

Was ich zuerst sehe: Die Wohnung, das Haus, die Straße. Menschen und Dinge, die sich in diesem Umkreis befanden, erhielten eine stärkere Bedeutung. Sie wurden intensiver wahrgenommen, Nachbarschaften wurden gepflegt, Sympathien füreinander deutlicher erkannt. Die Bewegungsbeschränkungen führten zu einem größeren Interesse am häuslichen Wohnen und an den Dingen, die einen täglich umgeben.

Legendär sind bereits die Aufräumarbeiten in den eigenen vier Wänden, im Keller und auf dem Speicher. Vor den Häusern türmten sich Landschaften von Sperrmüll, und die Baumarkteinkäufe führten zu einem vermehrten Interesse am Raum. Neu tapezieren und streichen, andere Bilder und Farben – manchmal sah es so aus, als stünden in der Zukunft besondere Feste bevor, für die alles hergerichtet sein sollte.

Neben der näheren Umgebung rückte der eigene Körper vermehrt in den Blick. Viele dachten erst jetzt darüber nach, was man so alles mit ihm anstellen kann. Gymnastik zu Hause, Joggen und Fahrradfahren standen hoch im Kurs. Ergänzend kam es zu Ernährungsdebatten: Was isst die Familie, wenn alle Mitglieder zusammensitzen? Wer gibt den Ton an? Wer verweigert welche Speisen mit welchen Argumenten?

Selbstversorger mit Gemüsebeeten im Garten wurden beneidet, und Kochen wurde zu einer oft aufwändig betriebenen Beschäftigung. Einkäufe wurden daher sorgfältig geplant, und ich kenne so manchen Bekannten, der plötzlich mit einer Excel-Tabelle in der Hand zum Supermarkt zog. Sie war das Ergebnis der häuslichen Debatten – gekürzt, erweitert und umgeschrieben ein ideales Material für Soziologen!

Untersuchen werden die Forscher auch veränderte Strukturen der Geselligkeit. Ihre früher beliebtesten waren mit gemeinsamen Mahlzeiten in Kneipen und Restaurants oder kulturellen Live-Ereignissen verbunden. Deren Wegfall führte zur großen Zeit der Kleindarsteller, Solisten und Minigruppen. Sie nutzten die digitalen Formate.

Wie überhaupt die digitalen Medien zu Fundamenten der Corona-Kommunikation wurden. Schulstunden und Universitätsseminare im Netz verlangten einen neuen Typus des Lernenden. Es waren Schüler und Studenten, die das Zeitmanagement beherrschen, Themen und Gesprächen konzentriert folgen können, eigenständig weiterarbeiten und die Älteren beratend unterstützen, wenn deren Home-Office-Kenntnisse versagen.

Die Informationsbranchen waren wieder stärker gefragt. Die Talkshows verwandelten sich in Zwiegespräche zwischen Politikern und Virologen, und so manche TV-Sendung konnte nicht genug von der Redundanz der neusten Meldungen bekommen. Die Kulturseiten der Tageszeitungen dagegen liefen zu Höchstformen auf. Seit langem wurde dort nicht mehr so substanziell in vielen neuen Formaten nachgedacht und über die Hintergründe der Krise debattiert.

Schließlich der schwierigste und beklemmendste Bereich: Die Finanzen! Die Coronawende verlangt von den Meisten komplette Umbauten des Finanzsektors. Viele sind gezwungen, Tabula rasa zu machen und den Weg in die Zukunft minuziös zu planen. Das macht aus Paaren und Familien kleine Wirtschaftsunternehmen, die den Anteil jedes Einzelnen am aufzubringenden Kapital kalkulieren. Auch dieser Bereich erlebt das Aufblühen der Excel-Tabellen, mit deren Hilfe die Zukunft wenigstens vage Strukturen erhalten soll.

All diese Prozesse der Coronawende werden zu starken Umdispositionen der gesellschaftlichen Strukturen führen. Wer profitiert? Wer gerät meist unverschuldet ins Abseits? Studierende des Faches Soziologie stehen zusammen mit ihren Lehrern vor großen Themen und Aufgaben.