Gespräch über Charlotte Rampling

Zwei Freunde – im Gespräch:

A: Vor ein paar Tagen habe ich einen Film (45 Years) mit Charlotte Rampling gesehen … B: Ja, und? A: Am Anfang verlässt sie mit dem Hund früh am Morgen das Haus und geht über die nahen Felder spazieren … B: Ja, und? A: Dann kommt sie zurück und macht das Frühstück … B: Sensationell. A: Tja, was soll ich sagen? Es hatte was … B: Was hatte es? A: Ich wäre gern mit ihr spazieren gegangen, und danach hätten wir zusammen das Frühstück gemacht. B: Noch was? A: Wir hätten uns gut unterhalten, und danach wären wir an unsere Arbeit gegangen. B: An welche Arbeit? A: In Swimming Pool hat Charlotte Rampling eine Schriftstellerin gespielt. Das fand ich passend, vom Typ her ist sie eine nachdenkliche, kluge Schriftstellerin. B: Aha. Und das bedeutet? A: Dass wir uns nach dem Frühstück an unsere Schreibarbeit gemacht hätten. B: Verstehe. Es wird ja immer spannender. A: Eben nicht, es wird immer ruhiger, schöner, konzentrierter, so, wie ich mir Charlotte Rampling eben vorstelle. B: Du stellst sie Dir aber erstaunlich genau vor. A: Wir würden zusammen zu Mittag essen, außerhalb des Hauses, irgendwo auf dem Land. Wir wären zwei, drei Stunden mit unseren Fahrrädern unterwegs. B: Was Du nicht sagst! Du bist jahrelang nicht mehr Fahrrad gefahren! A: Am Nachmittag würden wir dann durch die Stadt streifen, das aber getrennt, und später würden wir uns irgendwo wiedersehen. B: Um was zu tun? A: Um zusammen ein Glas Wein zu trinken … B: Ich weiß nicht … – was ist mit Dir los? A: Ich weiß auch nicht … – als nächstes werde ich mir The Look anschauen. B: Wieder ein Rampling-Film? A: Eine Dokumentation über ihr Leben, angeblich sehr gut gemacht, ein Meisterwerk von Doku, ein geniales Porträt … B: Puuh, reden wir mal über was Anderes, ja?

Das Istanbul von Ara Güler und Orhan Pamuk

Gestern Nacht habe ich in 3sat eine Dokumentation über den Istanbuler Fotografen Ara Güler geschaut, der vor einer Woche im Alter von neunzig Jahren in seiner Geburts- und Heimatstadt gestorben ist (abrufbar in der 3sat-Mediathek).

Ich erinnere mich gut, dass ich Fotografien von Güler zum ersten Mal während meines Istanbul-Aufenthaltes im Jahr 1967 gesehen habe (davon erzähle ich im letzten Kapitel meines neuen Romans Die Mittelmeerreise). Es waren scharf gestochene, elektrisierend wirkende Schwarz-weiß-Fotografien, mit einer Leica gemacht. Sie zeigten vor allem Straßenszenen des Alltags, die einen sonst nie so gesehenen Moment (der Freude, des Erschreckens, des Streits, der Melancholie) ausstellten. Daneben waren es aber auch immer Porträts von Menschen, Studien ihrer Gesichter, ihrer Kleidung, ihrer Gestik. Fotografierte Güler Panoramen, leuchteten die fast immer überfüllt erscheinenden Straßenzüge, Brücken und Moscheenlandschaften in einem seltsamen Licht, als würden sie vom Himmel aus in Szene gesetzt und angestrahlt.

In dem gerade erschienenen hinreißenden Istanbul-Buch von Orhan Pamuk (Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag 2018) sind viele von Gülers Stadtfotografien enthalten. Sie sind die ideale Ergänzung zu den autobiografischen Erzählungen Pamuks aus seinen Kinder- und Jugendjahren, die viel mehr sind als bloße „Autobiografie“. Wie Güler porträtiert auch er im Blick auf sein Leben letztlich die große Stadt, ihre Wunder und Atmosphären, ihre Geschichte.

Nach Istanbul kann man süchtig werden. Schon 1967 ist es mir so ergangen. Ich hörte auf, selbst zu fotografieren und kaufte mir Fotografien türkischer Fotografen, die ich zu Hause in einer Mappe aufbewahrte. Heute träume ich davon, einige Zeit dort zu verbringen und immer wieder in das kleine Museum zu gehen, das Orhan Pamuk seinen Romanfiguren gewidmet hat (Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul. Übersetzt von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag 2012).

Es ist das schönste Literaturmuseum, das ich kenne: Ein Schriftsteller hat die Dinge und Zeugnisse seines Lebens und seiner Zeit gesammelt, vom Kamm über den Wecker und sonstige Alltagsgegenstände bis hin zu den Fotografien. Pamuks Projekt habe ich mir inzwischen zum Vorbild genommen. Auch ich plane nun ein „Museum der Dinge“ (und der mit ihnen verbundenen Romanfiguren) in meiner westerwäldischen Heimat. Vielleicht finde ich Leserinnen und Leser, die mir dabei helfen. Es wäre die Verwirklichung eines Traums, der mich fast täglich in Gedanken beschäftigt …

Altgriechisch

Altgriechisch war meine zweite Fremdsprache auf dem humanistischen Gymnasium. Es zu lernen, war nicht ganz so reizvoll wie das Latein lernen, weil Altgriechisch auf das Ohr nicht so einfach und schlicht wirkte wie das klare, zugängliche Latein. Hinzu kamen die fremd erscheinenden Buchstaben und viele Sonderzeichen, die oberhalb, neben oder unterhalb der Buchstaben auftraten und aus der Schrift eine kompliziert aussehende Folge seltsamer Hieroglyphen machten. Wir Schüler kamen denn auch nur langsam mit dieser Sprache voran und wechselten nach den ersten zwei Übungsjahren viel zu früh zu den klassischen großen Texten (wie etwa Homers Odyssee), um dann hilflos Wort für Wort zu sezieren und den Text letztlich vor allem durch Übersetzungen ins Deutsche kennen zu lernen.

In meinem neuen Roman (Die Mittelmeerreise) erzähle ich von den kuriosen Momenten, als mein Vater und ich während unserer Schiffsreise im Jahr 1967 in der griechischen Stadt Patras zum ersten Mal an Land gingen. Wir sprachen kein Wort Neugriechisch, und selbst Englisch half nicht – auf den Straßen der Stadt verstand uns niemand. Und so bat mein Vater mich, Altgriechisch zu sprechen und den Anfang der Odyssee zu rezitieren. Ich stellte mich wie ein Schauspieler mitten auf einen Gehweg und deklamierte einige Verse, worauf wirklich das Wunder geschah. Man wurde auf uns aufmerksam und führte uns durch die halbe Stadt zu einer Schule (!), in der Annahme, ich suchte einen Lehrer, der mir helfen würde, meine Sprachkenntnisse zu verbessern …

Heutzutage lese ich wieder altgriechische Texte und habe auch an ihnen (wie an den lateinischen) meine Freude. Angefeuert wurde ich neulich durch ein sehr inspirierendes Buch einer jungen italienischen Gräzistin, die ihrer Begeisterung für das Altgriechische (Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist. Übersetzung aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Piper Verlag 2018) freien Lauf gelassen hat.

Man muss kein Altgriechisch verstehen, um dieses Buch lesen zu können, und man muss auch sonst kaum etwas über diese Sprache wissen. Andrea Marcolongo skizziert in einem lebendigen, anschaulichen Essay deren Besonderheiten und zeigt, wie eine solche Sprache die Welt auf charakteristische und einzigartige Weise sichtbar macht. Was sehen und verstehen wir vom Leben, indem wir es auf Altgriechisch benennen, erfassen und beschreiben? – das ist die Grundfrage. Auch für Andrea Marcolongo ist eine alte „Sprache“ niemals ein „totes Medium“, sondern eher ein faszinierendes Instrument großer kultureller Projektionen. Ganz nebenbei erfährt man, woher das Altgriechische kommt, wie es aufgebaut ist und welchen Gebrauch die alten Griechen von ihm gemacht haben.

Ohne die Lektüre solcher Bücher fehlen vielen Lesenden von heute wichtige Bausteine des Wissens – und zwar solche, die unser heutiges Wissen erhellen und ihm ein Fundament geben. Diese Fundamente grundieren die Gegenwart und richten sie aus. Zwar muss man nicht unbedingt Altgriechisch lernen, wissen sollte man aber schon, wie diese Sprache unsere heutige Welt entworfen und stark mitgeprägt hat.

Daher mein Vorschlag: Man lese zunächst das Buch von Andrea Marcolongo  – und danach einige altgriechische Texte in guten deutschen Übersetzungen (auf der rechten Seite), begleitet vom altgriechischen Original (auf der linken Seite). Zum Beispiel: 1) Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi. Reclam Verlag 2012 – Oder: 2) Wilhelm Busch. Max und Moritz auf Altgriechisch. Griechisch/Deutsch. Übersetzt von Otto Schmied. Reclam Verlag 2008)

Wieder Latein lernen

Latein war meine erste Fremdsprache, als ich auf ein humanistisches Gymnasium ging. Sie zu lernen, empfand ich auch deshalb als reizvoll, weil alle Schüler von demselben Nichtwissen ausgingen. Keiner von uns sprach ein einziges Wort Latein, und keiner hatte von so etwas Seltsamem wie einem „Ablativ“ bereits gehört. Wir starteten also alle (gleichberechtigt) bei Null, begannen mit den einfachsten Sätzen und lernten, dass eine Sprache ein sich auf logische Weise erschließendes System ist.

Die Beschreibung dieses Systems ermöglichten die grammatikalischen Begriffe. Mit ihrer Hilfe benannte man die Satzglieder und die Beziehung der einzelnen Glieder zueinander. Stand das Substantiv (gallina – die Henne) im Singular, so stand das in einem Satz dazu gehörende Verb (clamare – schreien/gackern) in der dritten Person Singular (gallina clamat – die Henne schreit/gackert). Stand das Substantiv im Plural, so stand auch … usw.

Durch das Latein lernen erfuhren wir Kinder erst, dass eine Sprache nach Regeln organisiert ist, die man durch Nachdenken und Schlussfolgern begreift. Sprechen wiederum war ein Setzen und Platzieren von Worten – und eben kein willkürliches Reden nach Lust und Laune. Daher hatte ich vor Latein einen immensen Respekt. Es war keine „tote Sprache“ (wie viele immer wieder herablassend sagten), sondern jene alte Sprache, die uns beibrachte, wie „Sprache“ überhaupt funktioniert. Sie zu lernen, bedeutete: Sich ein Grundwissen über „Sprache“ zu erwerben, das einem später half, weitere fremde Sprachen zu lernen.

Wie aber komme ich gerade jetzt darauf? Ganz durch Zufall bin ich in der ARD Mediathek auf die 65 Kurse von Pauk mit: Latein gestoßen, die bereits in den 70er Jahren gedreht und gezeigt wurden. Ein Schauspieler (Rolf Illig) sitzt im Pullover hinter einem Tisch mit vielen Büchern und beginnt das Latein-Training in einem angenehm entschiedenen, klaren Ton. Die ersten Sätze (Rusticus arat – Der Bauer pflügt) erscheinen in deutlicher Schrift und werden auseinandergenommen. Ist das Substantiv männlich oder weiblich? Und wie lautet sein Genitiv? Und was ist ein Ablativ?

Jede Folge dauert etwa 15 Minuten und kommt auf wohltuende Weise ohne die heute üblichen Mätzchen aus. Keine alten Römertrachten! Keine Schauspieler, die eine „Szene auf einem altrömischen Markt“ spielen! Nichts Buntes, Ablenkendes! Keine Musik! Keine Comics! Sondern nur Rolf Illig, ernst, freundlich und gescheit wie Cato in seinen mittleren Jahren!

Was soll ich sagen: Es ist eine Freude, das alte Latein aufzufrischen. Ich selbst folge gerade Grundkurs 1, Folge 4 – und es ist zum Glück kein „pauken“, sondern reinstes präparieren, memorieren, repetieren, was man bis in die letzten Windungen des Gehirns wie Medizin (klärend, auffrischend, belebend) spürt …

 

 

Nachwirkungen einer Buchpremiere

Heute stehe ich noch immer so stark unter den Nachwirkungen der gestrigen Buchpremiere, dass ich über kaum etwas Anderes länger nachdenken kann. Eine solche Premiere besteht ja nicht nur aus einer Lesung sowie einer Selbstmoderation, sondern auch aus den vielen Begegnungen mit Leserinnen und Lesern danach. Fast immer ergeben sich aus diesen Gesprächen neue Kontakte und Themen, die ich später auf irgendeine Art weiterverfolge.

Eine Leserin spricht davon, dass sie in diesem Sommer mit einem Segelboot allein durch die Ägais gefahren sei; eine andere erzählt von einem Hotel in Saloniki, in dem sie vor Jahren einem bekannten griechischen Autor begegnete; eine dritte bringt mir eine CD mit selbst eingespielten Klavierstücken russischer Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts mit; ein etwas älterer Mann berichtet, dass er vor Jahrzehnten in der Geodätengruppe meines Vaters mitgearbeitet habe (er wird mir noch Fotografien schicken); ein Lehrer schenkt mir eine Mappe mit Kurzgeschichten seiner Schülerinnen und Schüler, die sie nach Ideen meines Buches Der Stift und das Papier geschrieben haben – und ein junger Gymnasiast spricht von dem Altgriechisch-Unterricht, den er seit drei Jahren erhält und der ihn so beschäftigt, dass er ernsthaft daran denkt, später Altgriechisch und Latein (seine „Lieblingssprachen“) zu studieren.

Schon allein das zuletzt genannte Thema löste in mir eine Flut von Erinnerungen aus, denn Latein war einmal auch eine „Lieblingssprache“ von mir, zu Beginn der Gymnasialzeit. Wie weit das zurückführt … – bis zu den Tagen, als ich einen Satz wie „gallina clamat“ noch als eine Offenbarung von klarem, eindeutigem, unverwechselbarem Sprechen empfand! Genaueres darüber morgen, wenn mein Kopf die tausend neuen Themen sortiert hat und wieder etwas freier ist …

Die Vorabpremiere

Heute Morgen fand um 11 Uhr im Kulturwerk der Kulturhochburg Wissen an der Sieg die Vorabpremiere meines neuen Romans Die Mittelmeerreise statt. Der Verkehr kam wegen des großen Publikumsandrangs teilweise zum Erliegen. Die Sonderzüge aus Köln (von Westen) und Gießen/Siegen (von Osten) brachten Besucher aus dem weiteren In- und Ausland in die schmucke Stadt, deren Kulturwerk der Bundespräsident in diesem Frühjahr eigens besuchte.

Ich stellte den neuen Roman vor, der ab dem 05. November auch im Handel erhältlich ist. Die Spuren führen bis zum Schreibunterricht meines Vaters (Der Stift und das Papier) zurück, der mir als Kind überhaupt erst das Schreiben beibrachte. Während längerer Reisen mit ihm entlang der Mosel (Die Moselreise), durch Berlin (Die Berlinreise) und nach Paris (Paris, links der Seine) verfeinerte es sich dann immer mehr, und ich lernte, auch längere erzählende Texte zu verfassen.

Den Abschluss unserer gemeinsamen Reisen bildete die wochenlange Mittelmeerreise, die uns als Passagiere auf einem Frachtschiff von Antwerpen durch den Golf von Biscaya und die Meerenge von Gibraltar nach Griechenland und in die Türkei (Istanbul) führte. Sie fand im heißen Sommer 1967 statt, als ich fast sechzehn Jahre alt war …

Rembrandts Selbstbildnis als verlorener Sohn

Gestern habe ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs auf die Spur eines berühmten Gemäldes geschickt. Eine Kopie dieses Meisterwerkes (in originaler Größe) befindet sich seit einiger Zeit in meinem Arbeitszimmer, kaum zwei Meter von meinem Schreibtisch entfernt. Mehrere Male am Tag entsteht ein enger Kontakt, ich blicke zufällig auf ein bestimmtes Detail (wie etwa das erhobene Glas oder den mit Federn geschmückten Hut des Mannes), oder ich vertiefe mich für einige Minuten in die Schattierungen des Hintergrunds.

Darüber, wie stark sich dieses Bild allmählich mit meinem Leben verbindet, erstaune ich immer mehr. Aus einem Gemälde wird ein Tableau vivant, als handelte es sich um zwei reale, atmende Personen, die mich (als dritte Figur der Szene) einladend anschauen. Dadurch verwandelt das Bild sich in eine Imagination, die sich (beinahe wie von selbst) weitererzählt. Längst verbinden sich ihre Komponenten daher zu einer Geschichte, die hintergründig auch mit dem Menschen zu tun hat, der mir dieses Bild einmal geschenkt hat. Er ist der Vierte im Bunde – ein geheimer Beobachter der Annäherungen, der ruhig mit anschaut, wohin die Reise so geht …

Es handelt sich (wie viele Leserinnen und Leser rasch entschlüsselt haben) um Rembrandts Selbstbildnis als verlorener Sohn, das in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden hängt. In der biblischen Szene des verlorenen Sohnes, der sein Erbe in weiter Entfernung von zu Hause im Wirtshaus verprasst, hat Rembrandt auch sich selbst und seine Ehefrau Saskia porträtiert. Kam es ihm in der Erstfassung des Bildes mehr auf den biblischen Kontext an, so gab er dem Bild einige Jahre nach seiner Entstehung (1634) eine Zweitfassung. Die biblischen Anspielungen traten in den Hintergrund – und das Gemälde wurde zum Bild eines Paares, das, wie man so sagt, „zu leben versteht“ und zugleich eine tiefe Vertrautheit beweist.

Was aber hat diese Szene nun mit jener Person, die mir das Bild geschenkt hat, zu tun – und was mit mir? Diese beiden Fragen liegen der Geschichte zugrunde, die in meinem Kopf gerade entsteht …

Meine neuen Mitbewohner 2

Am 19. September 2018 habe ich von meinen neuen Mitbewohnern erzählt, die zunächst in Gestalt eines Bildes bei mir eingezogen sind. Noch immer haben sie sich nicht beruhigt und strahlen weiter gute Laune aus. Der männliche Part hat protestiert, dass ich ihn nicht auch abgebildet habe. Die Frau sitzt weiter auf seinem Schoß und soll (geprüften Meldungen zufolge) wirklich seine Frau sein. Die beiden sind also ein Paar, das es sich gutgehen lässt. Jeden Tag unterhalten wir uns miteinander, und ich mache mir (heimlich) kurze Notizen über all das, was sie berichten. Um den männlichen Part zufrieden zu stellen, füge ich nun auch ein Foto von diesem munteren Kerl an. In der Hoffnung, dass meine Leserinnen und Leser die Spur aufgreifen und mir verraten, um wen es sich handeln könnte.

Charlotte Müller

Charlotte Müller (1840-1935) saß in den längst vergangenen Zeiten, als unsere Bahnhöfe noch ausschließlich Bahnhöfe und keine Verpflegungsstationen für Reisende waren, etwa dort, wo sich heute ihr Denkmal befindet: kaum hundert Meter vom Göttinger Bahnhof entfernt. Um sich herum hatte sie die Waren postiert, die sie aus der Stadt dorthin geschleppt hatte: Obst, Gemüse und vieles andere, alles tagesfrisch und an Regentagen durch eine Kolonie von kleinen Regenschirmen geschützt. Jahrzehntelang versorgte sie werktags wie feiertags die Reisenden und wurde so zur Erfinderin des Reisens mit Frischware, die unterwegs rasch in die Tasche gesteckt und dann gleich verzehrt wurde. Sehr alt ist sie trotz ihres anstrengenden Lebens geworden, und ganz nebenbei hat sie drei Kinder aufgezogen.

Das Denkmal ist noch zu Ihren Lebzeiten entstanden. Es zeigt sie in ihrer Tracht, mit Haube und von der Lebenslast gezeichneten Händen, auf dem Boden thronend.

Von solchen Denkmälern sollte es in unseren Städten viel mehr geben: Denkmäler der Lebensklugheit und Einfachheit, die den Denkmälern der sowieso schon bekannten historischen Größen in nichts nachstehen.

Das Jahr der Terrasse

 Seit April/Mai habe ich fast jeden Tag auf der Terrasse hinter dem Haus verbracht. So etwas gab es in meinem Leben noch nie: Ein halbes Jahr fast ausschließlich im Freien, bereits morgens zum Frühstück, dann während der Arbeit – und weiter, bis in die Nacht. Im Morgendunkel habe ich dort den Sonnenaufgang erlebt, und nachts das Sternenleuchten – es war, als wäre die Terrasse das Zentrum von Natur und Kosmos, akzentuiert von gedämpfter Musik, die aus dem Innern des Hauses kam.

Ohne dass ich es bemerkte, hat mich das Terrassenleben allmählich verwandelt: Wochenlang trug ich dieselben Hemden und kurzen Hosen, ich wurde (schon vom puren Sitzen) hellbraun und sah so gesund aus, als hätte ich im Süden Urlaub gemacht. Ein wenig war es auch so, denn meine Terrasse ähnelte immer mehr einem Strand. Um mich herum die goldgelben, sandigen Farben, die stehende Hitze, der Teich mit seinem erstarrten Blau – daneben die Liegestühle mit ihren Orangetönen und auf den niedrigen Beistelltischen Gläser mit kalten Getränken, Tee und Kaffee.

Ich hätte von meiner Terrasse aus ins Gartenmeer hüpfen können, das schaffte ich nicht, doch den Tieren gelang es spielend. Am Mittag flüchteten die Mäuse aus den Ritzen der Trockenmauern in die kühleren Zonen, und an den Abenden ließen sich die Feuersalamander die Treppenstufen zum letzten Nass hinabfallen, ganz zu schweigen von den Vögeln, die den ganzen Tag über unermüdlich aus den Schatten zu den Wasserstellen flogen, tranken, badeten und mit Früchten im Schnabel zurück flatterten.

Es war ein Leben wie auf einem Landgut in der Nähe des alten Rom, als säße ich, entrückt von der Stadt, abgeschieden und still, in einem sich nicht mehr verändernden Reich, das den Zauberern gehört. Alle Jahrzehnte kommen sie einmal vorbei, lassen sich nieder, zitieren ihre Sprüche und Wechselgesänge und verschwinden wieder in ferne Kontinente, wo Menschen es aushalten nur mit sich selbst und einem weiten Panorama aus naher Natur.