Eine kurze Auszeit – verbunden mit einer Bitte

Liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs,

um an meinem Buchprojekt „Kunstmomente“ (Frühjahr 2023 bei btb) noch intensiver arbeiten zu können, lege ich eine kurze Auszeit ein. Am 21. Juni 2022 können Sie meinen nächsten Eintrag lesen.

Sollten Sie diesen Blog regelmäßig verfolgen, würde ich mich  – nun, etwa in der Mitte des Jahres 2022 – über eine finanzielle Unterstützung und Anerkennnung sehr freuen.

Überweisen Sie Ihren Dank bitte auf das Konto DE34 4604 0033 0368 1574 00 der Commerzbank Wissen (BIC COBADEFFXXX) und fügen Sie Ihrer Überweisung den Vermerk „SALA Ortheil“ hinzu.

Sie zeigen damit nicht nur, dass Sie diesen Blog schätzen und weiter am Leben erhalten wollen, sondern helfen auch, meine SALA in Wissen/Sieg in ihrer Existenz für die Zukunft zu sichern.

Fotografieren

Manche Texte in diesem Blog begleite ich mit Fotografien, die ich „bei Gelegenheit“ hier und da gemacht habe. Sie interpretieren, erweitern oder ironisieren den Text – das jeweils zu deuten, überlasse ich den Leserinnen und Lesern.

Mit dem Thema „Fotografie“ beschäftige ich mich momentan besonders intensiv. In meinem im kommenden Frühjahr 2023 erscheinenden Buch „Kunstmomente“ (btb) wird ihm ein eigenes Kapitel gewidmet sein.

Dabei gehe ich zunächst den ersten Impulsen des eigenen Fotografierens nach. Wann genau habe ich damit begonnen? Warum? Was habe ich fotografiert, was nicht? Habe ich meine Fotografien gesammelt/ häufiger betrachtet/ anderen gezeigt?

In den fünfziger Jahren, als ich mit dem Fotografieren in Köln begann, wanderten die Fotografien noch in Fotoalben. Ganz anders als heute überlegte man sich genau, was man fotografierte – allein schon deshalb, weil Filme und Abzüge teuer waren. Bloßes Knipsen kam nicht in Frage, jede Fotografie erschien wie eine Untersuchung eines Lebensmotivs, das mit einer „Zurschaustellung“ nichts zu tun hatte. Die Räume des Motivs blieben, im Album gesammelt, vielmehr intim, denn das Album reichte man nicht überall herum, sondern zeigte es nur Menschen, die einem nahestanden.

Im Zeitalter von Instagram hat das Fotografieren einen ganz anderen Charakter. Welchen genau? Was ist jetzt noch eine Fotografie? Warum macht man sie?

Mein Nachdenken über das Fotografieren wird sich also auf sehr unterschiedliche historische Zeiträume konzentrieren: 1) Auf das der offiziellen Fotografie durch Berufsfotografen (Anfang des 20. Jahrhunderts), 2) Auf das der beginnenden Privatfotografie (etwa seit den zwanziger Jahren), 3) Auf das Fotografieren im Zeitalter der Fotoalben, 4) Auf das digitale Fotografieren.

Putins Dr.-No-Monologe

(Am 9.6.2022 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Mehr als hundert Tage nach Beginn des Ukraine-Krieges scheint die Vorstellungskraft vieler meiner Freunde allmählich zu erlahmen. Die täglichen TV-Reportagen erreichen sie nicht mehr so aufwühlend wie früher, und die hierzulande geführten Debatten über Rüstungslieferungen erscheinen wie politische Ersatz- oder Scheingefechte, deren Rhetorik mit keinerlei real erscheinenden Anschauungen verbunden ist.

Dennoch ist der Krieg noch immer allgegenwärtig und legt sich mitsamt der Nachrichten und Bilder wie ein nicht fassbares Zweitleben auf den gegenwärtigen Alltag. Das führt zu viel Innehalten und laufend gestellten Fragen danach, welche Reaktionen und Antworten für den Einzelnen möglich und angemessen sind.

Einige Freunde rühren sich nicht mehr vom Fleck und verfolgen den Krieg wie gelähmt, als wollten sie erst wieder planen, wenn er vorüber ist. Andere engagieren sich in Hilfskomitees und fühlen sich dann meist konkreter mit den Ereignissen verbunden. Sie unterstützen Flüchtlinge, unterrichten Kinder und Jugendliche oder vermitteln ukrainischen Familien Arbeit und Unterkunft.

Die Potenzen der Vorstellungskraft werden trotz alledem schwächer, weil die möglichen Absichten und Strategien der russischen Seite längst nicht mehr zugänglich oder gar begreifbar erscheinen. Ein Freund erzählte mir, dass die seit Kriegsbeginn gezeigten Bilder Putins, der wie ein einsamer Akteur in seinen menschenleeren Rückzugsräumen nur noch auf Fragen dienstbarer Journalisten antwortet, ihn an James Bond-Filme der frühen sechziger Jahre erinnern. Dort gab es (wie etwa in der Gestalt des Dr. No) den fanatischen Einsamen auf einer Insel, der über Atomwaffen verfügte und sich dafür rächen wollte, dass man seine Ideen nicht angemessen gewürdigt und anerkannt hatte.

Eine ähnlich absurde und früher für verrückt gehaltene Konstellation erscheint nun wieder, als verwirklichten sich jetzt Fantasien, die man einmal für bloße Wahnvorstellungen und lediglich für einen Stoff von Filmdrehbüchern gehalten hatte. Dass sie von russischer Seite aus realisiert werden, ist mit den Mitteln althergebrachter Vernunft nicht zu verstehen. Alle Erklärungen aus dem Zentrum des Aggressors, ausschließlich von ihm selbst vorgetragen, ignorieren vielmehr den Anspruch an ein aufgeklärtes Denken, das sich einmal auf jederzeit möglich erscheinende Verständigungsformen in Konfliktfällen verlassen hat.

Inzwischen aber ist die Verrücktheit schon soweit gediehen, dass es solchen Gesprächen an den notwendigsten Grundlagen fehlt. Wie soll man mit Menschen verhandeln, die nicht nur ein anderes Weltbild, sondern sogar – viel diffuser und gefährlicher – eine ganz andere Vorstellung vom Realen haben? Putins Erzählungen sind Dr. No-Monologe, die nicht die geringsten Ansatzpunkte für so etwas wie Dialoge hergeben. Die Atmosphären, denen solche Monologe entstammen, wirken nicht zufällig kalt und erstarrt, als wären sie künstlich.

All das hinterlässt den gegenwärtigen Eindruck eines kaum noch auflösbaren Stillstands, der immer mehr wie ein Perpetuum mobile des Krieges erscheint. Zerstörte Städte und Landschaften, Tausende von Toten, Millionen von Flüchtlingen bilden den furchtbaren Realitätsgehalt solcher Eindrücke, die von keinen denkbaren Lösungsideen mehr begleitet werden. Genau das führt zu der latenten Verzweiflung, die viele meiner Freunde gegenwärtig spüren. Die Vorstellungskräfte drohen zu versiegen, und kein Geheimagent ist in Sicht oder denkbar, der den einsamen Aggressor auf seiner Insel noch erreichen könnte.

Kurze Begegnung nach einem Gewitter

Die graue Gewitterfront füllt den Horizont, von einigen matten Blitzen durchzogen. Der letzte Regenschauer breitet sich duftend aus, und in der westlichen Ferne leuchten die ersten helleren Kontinente.

Genau der richtige Moment für den Aufbruch! Kein Mensch ist zu Fuß im Wald unterwegs, auch kein Radfahrer, als hielten sie sich zurück, unsicher, ob das Gewitter nicht noch ein weiteres Mal aufzieht.

Die Regentropfen zu beiden Seiten der Wege wie dünne Schleier, durch die bald die ersten Strahlen blitzen. Weltaufgangsstimmung! Der feuchte Boden zieht sich zusammen und ebnet den kleinen Gewässern schmale Pfade und Wege.

Da kommt mir der Waldmensch entgegen, mit bloßen Füßen und nacktem Oberkörper, nur mit einer schwarzen Turnhose bekleidet. Wir passieren einander, und ich überlege, ob ich ihm etwas zurufen soll, lasse es aber bleiben.

Einige Schritte weiter schaue ich mich nach ihm um. Er geht rasch, und ich ahne nicht, woher er kommt und wohin es ihn treibt.

Als ich ihm nachblicke, bleibt auch er plötzlich stehen und schaut, als hätte er meinen Blick zu spüren bekommen. Er hebt beide Arme und zuckt kurz mit den Schultern: Ich weiß ebenso wenig wie Du, scheint er sagen zu wollen.

Ich winke ihm zu, als wollte ich ihn verabschieden. Da nickt er und geht, laut mit sich selbst sprechend, noch schneller voran.

Bonifatius

Als Einstimmung auf Pfingsten empfehle ich eine Dokumentation über den heiligen Bonifatius (um 673-754/755), dessen Todestag der morgige 5. Juni ist:

https://www.arte.tv/de/videos/101930-000-A/bonifatius-moench-und-prediger/

Einiges verbindet mich mit ihm, nicht nur seine Reise nach Rom, sondern auch seine Nähe zu Köln, aber auch seine spätere Bischofszeit in Mainz, wo vor dem Dom eine Bonifatius-Skulptur steht.

Als Mönch und Missionar führten ihn seine Reisen im Frühmittelalter durch große Teile Europas – bedeutende Klostergründungen gehen auf ihn zurück.

Die Bonifatius-Landkarte macht deutlich, wie und wo das frühe Christentum geistige Zentren gründete, die später das Leben Europas stark mitbestimmten und prägten.

Klausurmethoden

Seltsam. Tennis ist die einzige Sportart, deren Partien ich bei Gelegenheit noch von der ersten bis zur letzten Minute verfolge. Sie haben etwas von mehrsätzigen Kompositionen, in denen zwei Instrumente spielen, gegen-, aber auch miteinander.

Dass sich zwei einzelne Spielerinnen oder Spieler gegenüberstehen, gefällt mir. Zumal jede oder jeder von ihnen sich oft aus einer strengen Klausur auf den Platz begibt, um sich dort nicht nur den Launen des Publikums, sondern auch den eigenen Launen auszusetzen.

Die Methoden der Klausur haben mich immer beschäftigt, denn sie sind mit den Klausurmethoden von Schriftstellern durchaus vergleichbar, besonders dann, wenn diese über einen langen Zeitraum an Romanen arbeiten.

Ich kenne Tennisspieler, die während eines Turniers immer in demselben Restaurant auf demselben Platz essen und sich immer von demselben Kellner bedienen lassen. Natürlich essen sie auch immer dasselbe.

Und ich kenne Romanautoren, die während der Arbeit an einem Roman immer dasselbe frühstücken, in den kleinen Pausen dieselben Wege gehen und sehr ungern über wildfremde Themen mit anderen Menschen kommunizieren.

Solche Klausuren dienen dazu, die Konzentration nicht nur zu stärken, sondern so zu erhöhen, dass sich kaum noch störende Momente einmischen.

Heute, Freitag, 3. Juni 2022, spielen um 15 Uhr im Rahmen meines Lieblingsturniers (Roland Garros in Paris) Rafael Nadal und Alexander Zverev gegeneinander (Übertragung auf Eurosport).

Ich bin dabei, und ich werde genau beobachten, wie sie ihre Plätze einnehmen, wie sie die Pausen gestalten und ob Alexander Zverev es erträgt, wenn Rafael Nadal jeden Aufschlag mit seinen Rupf- und Zupfbewegungen an Trikot, Haaren und Stirnband einleitet, immer mit denselben…

Ein Pfingstferientag in Köln

Ich empfehle einen Pfingstferientag in meiner Geburtsstadt Köln. Hier einige Hinweise, die den Aufenthalt gestalten könnten.

Fahren Sie mit der U-Bahn nach Köln-Nippes zur Haltestelle Florastraße und trinken Sie in der Schwemme des „Golde Kappes“ stehend (oder draußen, im Sitzen) ein oder zwei Kölsch zum Beginn Ihrer Unternehmungen. (In der Schwemme habe ich als Kind zusammen mit meinem Vater manchen Abend verbracht.)

Gehen Sie die Neusser Straße entlang, bis zur links abbiegenden Schillstraße. Versorgen Sie sich im „Genusswerte Nippes“ (Schillstraße 11) mit hervorragendem, nur dort erhältlichem Brot und mit Käse, Pasten und Getränken.

Schlendern Sie über den Erzbergerplatz, auf dem ich große Teile meiner Kindheit verbracht habe, zum „Nippeser Tälchen“, wo Sie Ihren Einkauf als Imbiss auf den schönen Wiesen verzehren können.

(Sind Sie am Pfingstmontag unterwegs, können Sie weiter bis zur Rennbahn Köln-Weidenpesch gehen und dort die Pfingstrennen besuchen. Auch dieser Raum hat in der Kindheit eine große Rolle für mich gespielt, in meinem Roman „Die Erfindung des Lebens“ nachzulesen.)

Wenn Sie die Rennbahn auslassen, fahren Sie mit der U-Bahn von Haltestelle Florastraße zurück bis zum Ebertplatz. Gehen Sie durch das Eigelstein-Tor und den trubeligen Eigelstein entlang bis zur Marzellenstraße und nehmen Sie in einem meiner Lieblingsitaliener, dem Ristorante „Luciano“ (Marzellenstraße 68-70), eine Mahlzeit (mittags oder abends) ein (ich empfehle „Finissima di polpo“).

Grüßen Sie den Besitzer in meinem Namen – dann erhalten Sie mein Buch „Rom. Eine Ekstase“, von mir signiert, als Geschenk.

Viel Vergnügen – und einen schönen Tag!

Die Sprachen der Violine

Eine unerwartete Entdeckung: Jean Baptiste Senaillé (1687-1730) gehörte zu den virtuosen Violinisten am französischen Hof. Er komponierte vor allem für sein Instrument: gesangliche, ekstatische, aber auch ausholende, meditative Stücke.

Interessant zu verfolgen ist, dass diese in Italien und Frankreich ausgebildete und betriebene Violinmusik das Instrument anders einsetzt als Kompositionen der späteren Klassik: Die Tonführung orientiert sich an Sprechen und Sprechgesang, ist weniger stark melodiös als gelenkig, abschweifend oder auch sprunghaft.

Jetzt ist eine CD erschienen, die solche Stücke präsentiert, gespielt von Théotime Langlois de Swarte (Violine) und William Christie (Cembalo).

Ein lyrisches Tagebuch

Im C.H.Beck-Verlag ist ein ungewöhnliches und sehr lesenswertes Buch des Sängers Christian Gerhaher erschienen: Lyrisches Tagebuch. 

Zum einen erzählt er von seinen Liedinterpretationen der klassischen, großen Liedtradition, angefangen mit Liedern Beethovens über solche von Schubert und Schumann (gerade hat Gerhaher alle Schumann-Lieder zusammen mit seinem Klavierpartner Gerold Huber eingespielt!!) bis hin zu Liedern Wolfgang Rihms.

Dieser Erzählstrang bleibt einerseits konkret, indem er bestimmte Konzerte und Auftritte erinnert, holt dann aber auch aus in die Text- und Musik-Deutungen der Lieder: nicht analytisch, sondern weiter zwar textnah, aber erzählend und vorbildlich fragend, erläuternd.

Eingebettet sind diese Erzählstränge in Miniaturen der Biographie – Augenblicke und Szenen des Erinnerns, die über die Jahre unvergesslich geblieben sind.

Diese Dreiheit macht die Freude und das Vergnügen an Gerhahers „Lyrischem Tagebuch“ aus. Man wird durch weite Horizonte geführt und erlebt die große Liedtradition erfrischend neu.