Ich erinnere mich sehr gut an den Beginn der Pandemie vor einem Jahr. Es war Mitte März 2020, als ich gerade vorhatte, in den italienischen Süden aufzubrechen. Seit Monaten hatte ich an diesen Aufbruch gedacht und alles dafür vorbereitet. Und dann kam der abrupte Stillstand: Die Stille, die Leere der Städte, der Rückzug in Haus und Garten, die Trennung von Freunden, die Begrenzung der Bewegung.
Heute reizt es mich oft, den Ereignissen und Bildern dieses Jahres auf den Grund zu gehen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich genau das tun. Diese Zeit habe ich momentan nicht, aber ich habe im Pandemie-Jahr viel Material gesammelt, das als Ausgangspunkt für meine Forschungen dienen könnte.
Wie zum Beispiel die Fotografien aus dem März 2020, den die römische Bibliotheca Hertziana gerade online zeigt:
Rom und Neapel im Frühjahr 2020. Dokumentationsfotografie im Lockdown.
Eine (leider späte) Entdeckung: Die französische Pianistin Camille Alice Marie Ader hat vor einigen Jahren Sonaten von Domenico Scarlatti eingespielt.
Sie hat das aber nicht irgendwo getan, sondern an jenen Orten und in jenen Räumen, in denen Scarlatti gelebt und komponiert hat.
Das ist (seltsamerweise) eine Idee, die ich seit Jahren im Kopf hatte: Scarlatti dort zu hören, wo er gewohnt hat. Geboren wurde er 1685 in Neapel, gestorben ist er 1753 in Madrid. Seine kurzen Sonaten (es sind über fünfhundert) zählen zu meinen Lieblingsstücken, viele höre ich immer wieder, oft am frühen Vormittag, manche sogar noch vor Sonnenaufgang.
Es sind helle, leuchtende, furiose oder auch nachdenkliche, stille Meditationen, die einen stark inspirieren: den Tag anzugehen…
Mit den Sonaten Scarlattis wünsche ich allen Leserinnen und Lesern einen angenehmen Sonntag!
Die italienische Schriftstellerin Elena Ferrante ist durch ihre neapolitanische Saga weltweit bekannt geworden. Vor kurzem hat sie sich einem riskanten Experiment unterzogen. Auf Einladung des britischen Guardian hat sie Woche für Woche eine Kolumne geschrieben.
Mehrere mögliche Themen wurden ihr jeweils von der Redaktion genannt, und Elena Ferrante hatte die Freiheit, sich dann für ein Thema zu entscheiden. Das Experiment hätte schiefgehen können: weil 52 Kolumnen in einem Jahr ein anstrengender Langstreckenlauf sind, weil bestimmte Themen nur auf den ersten Blick interessant sind oder weil sich auf Dauer eine Routine einstellen könnte.
Anhand der gerade auch auf Deutsch erschienenen Buchausgabe der Kolumnen kann man nun den Test machen, Thema für Thema, Woche für Woche.
Keine Sorge, Elena Ferrante kennt ein gutes Rezept, den Gefahren des Experiments zu entgehen. Sie schreibt über „Ängste“ oder „Töchter“ oder „Ausrufungszeichen“ – und erzählt umstandslos von sich selbst und so passioniert, als hätte sie die Welt gerade neu entdeckt.
Ich schlage vor, die Themen der Kolumnen als Themen eigener Schreibversuche zu verstehen. Also: Zunächst das Thema festhalten, dann dazu Stichworte notieren und erst wenn man sich bewusst geworden ist, wie man das Thema selbst behandeln würde, die Kolumne von Elena Ferrante lesen!
So könnte dieses Buch auch dazu dienen, sich selbst interessante Schreibaufgaben zu stellen!
Elena Ferrante: Zufällige Erfindungen. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag 2021
Vor genau zehn Jahren kam es in Fukushima zu einem Tsunami und einem Reaktorunglück. Beinahe 15 000 Menschen sind damals in einer Region an der japanischen Meeresküste gestorben, Hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen.
Sich daran genauer zu erinnern, könnte durch einen Film von Doris Dörrie (Grüße aus Fukushima) aus dem Jahr 2016 gelingen, der gegenwärtig in der ARTE-Mediathek abrufbar ist.
Seine besondere Qualität besteht darin, dass er einerseits in fast dokumentarischer Manier das zerstörte und kontaminierte Gelände um Fukushima zeigt, diese Option aber andererseits auch mit einer Spielfilmhandlung verbindet.
Die Geschichte einer jungen Deutschen, die nach Japan reist, legt sich zum Glück aber nicht aufdringlich auf das fremde Land und seine von der Katastrophe gezeichneten Menschen, sondern entsteht, genau umgekehrt, durch den genauen Blick auf das Dasein der noch in Fukushima lebenden Bewohner.
Zum Zwittercharakter des Films passt, dass es ein schwarz-weiß-Film ist: Viele Aufnahmen vertiefen sich sprachlos ins Zeigen, und viele Details der Geschichte haben etwas Unwirkliches, Gespenstisches. Das fügt sich sehr gut ineinander. Hier schon einmal der Trailer:
(Am 16.03.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)
Mal was anderes, sagt mein Freund Herbert neuerdings mindestens dreimal in einer Stunde. Er will nicht mehr über Corona reden und meidet alle Themen, die in die Nähe führen könnten. „Mal was anderes“ ist ein Signal, sich Corona aus dem Kopf zu schlagen oder von Corona abzuheben. Zum Beispiel hin zum Thema Online-Weinproben.
Herbert hat gerade eine hinter sich und meint, es sei entsetzlich gewesen: Du hast den Vortester auf Deinem Bildschirm und siehst ihn schnüffeln, kosten und reden, was das Zeug hält. Die ganze Palette des Weingenuss-Vokabulars giesst er über Dir aus, von der „beerenintensiven Restsüße“ bis zum „polyphonen Nachklang einer am Gaumen abhängenden Fruchtdosis“. Und dann sollst Du zu Hause in Deiner Muffelbude das Glas heben und mit dem Bildschirm anstoßen! Dass sich dieser Experte nicht schämt, einem so den Mund wässrig zu machen und dann derart mit dem Probieren allein zu lassen!
Herbert hält das, einmal krass gesagt, für ein Vorspiel ohne Folgen. Er erzählt, dass man den Bildschirm während der Probe auch so einrichten kann, dass andere Weinfreunde mit im Bild sind. Wie die sich oft anstellen! Als kämen sie gerade aus dem Weinberg und hätten die Edelmuskateller-Trauben persönlich gepflückt! Einer, sagt Herbert, habe davon berichtet, wie er jeden Wein standesgemäß mit Spezialkühlern präpariere. Standesgemäß hat er wirklich gesagt, lacht Herbert, stan-des-ge-mäß! Am liebsten hätte Herbert damit gekontert, dass er Thermoweinkühler verschmähe und seine Weine im Keller bei exakt zehn Grad mit chinesischen Raumventilatoren auf den kulinarischen Schluckauf vorbereite.
Manche Probanden, macht Herbert gut gelaunt weiter, zeigten bereits nach dem zweiten Kosten die Neigung zu kleinen sprachlichen Aussetzern. Einer habe von einer „Trockenbeetauslese“ und ein anderer von einer „Schaurebe“ gesprochen. Ich habe mir das mal notiert, sagt Herbert, nach der vierten Probe wird es dann richtig barock, und einige lassen sich gehen. Dann wird ein harmloser Burgunder zu einem „rasanten Gesöff“, und ein Rheingauer Weißwein feiert Triumphe: „Mit dem lässt es sich aushalten, der ist richtig pompös bettlägerig!“
Mal was anderes, sagt Herbert und hakt das Thema Onlineweinproben ab. Er hat im Netz nach Museumsführungen Ausschau gehalten und ist dort Henriette Reker begegnet. Sie sprach über die große Warhol-Ausstellung des Museums Ludwig in Köln und tat angeblich so, als wäre sie ein Leben lang hinter Warhol her gewesen und hätte kaum je an etwas anderes gedacht. Es soll wieder das typische Vorspiel ohne Folgen gewesen sein: einem den Mund wässrig machen und einen danach mit ein paar Bildchen der Ausstellung allein lassen!
Herbert war es leid und hat reagiert. Aus lauter Trotz hat er die neue, über tausendseitige Warhol-Biografie von Blake Gopnik gelesen. Der Untertitel: „Ein Leben als Kunst“. Das sitzt, sagt Herbert: So soll es sein! Keine Vorspiele, sondern das ganze Leben als Kunst! Herbert hat sich jetzt, da die Ausstellung wieder geöffnet ist, gleich ein Ticket gesichert und wird noch diese Woche seine Runden drehen, eingeweiht wie ein slowakischer Warholguru! Dessen Leidenschaft für Schuhe, seine Freude an Schaufenstern und die täglichen Wahnsinnstelefonate in Tagebuchformat – er wird so Bescheid wissen wie kaum ein anderer!
Herbert und ich – wir haben uns gut verstanden: Die Onlinesitzungen sind Vorspiele für den tiefergehenden Buchgenuss! Seit dem 8. März sind auch die Buchhandlungen wieder geöffnet! Nichts wie hin! Und noch rasch die Botschaft an Henriette Reker: Mylady, schauen Sie sich die Warhol-Ausstellung bitte live an und erweisen auch Sie sich als eine Eingeweihte!
Zum heutigen Festa della Donna schicke ich allen Leserinnen dieses Blogs einen zumindest imaginativen Gruß aus Venedig, verbunden mit einem Zitat jener Blumen, die heute auf den Straßen und Plätzen Italiens leuchten und funkeln werden: Mimosen!
Lang Lang, einer der bekanntesten Pianisten unserer Tage, hat seinen Piano-Lektionen acht Empfehlungen vorangestellt, die mir sehr gefallen haben.
Zunächst öffnet er die Tore weit: Klavierüben ist nicht altersabhängig, man kann es jederzeit angehen, ab dem dritten Lebensjahr bis ins hohe Alter. Da beide Hände im Spiel sind, ist es (auch) ein ideales Gehirntraining. Man sollte sich täglich eine Stunde Zeit dafür nehmen. 20 Minuten technische Übungen, 20 Minuten kurze Stücke – und, sehr wichtig: 20 Minuten freie Improvisation.
Ich ergänze: Technische Übungen sind Fingerübungen. Klassisch sind die Übungen von Carl Czerny. Langsam und mit Freude angehen. Sich begeistern, dass die eigenen Finger trainieren, stete Steigerungen des artistisch anmutenden Trainigs (Fingergymnastik)!
Kurze Stücke sollten leicht spielbar sein – und ebenfalls Freude machen. Auf die Auswahl kommt es also an. Konsequentes Üben ist Üben mit der rechten und Üben mit der linken Hand, zunächst getrennt voneinander, dann, in langsamen Schritten, mit dem Einsatz beider Hände!
Für die freie Improvisation gibt es Lehrbücher mit Empfehlungen. Man trainiert die Befreiung vom Korsett der Stücke.
Mit anderen zusammen zu spielen, ist ein besonderes, großes Vergnügen. Gesang und Klavier, Geige und Klavier, Cello und Klavier, Querflöte und Klavier, Gitarre und Klavier – man sollte Mitspielerinnen und Mitspieler suchen und sich regelmäßig treffen.
Eine Komposition, sagt Lang Lang, ist auch eine visuelle Erscheinung. Guter Hinweis! Das visuelle Moment einer Komposition begreift man durch ein langsames, genaues Studium eines Stücks. Mit welchem Motiv beginnt es, wo sind die Höhepunkte, wo die An- und Ablaufphasen etc.? Da können gescheite Lehrer helfen, das Ganze nennt man Harmonielehre. Hat man davon etwas begriffen, geht es weiter mit der Kontrapunktlehre. Auch dafür gibt es gute Lehrbücher.
Schließlich: Klavierüben ist kein ödes Pflichtprogramm für Menschen, die sich eine fade Disziplinierung antun wollen. Im Gegenteil: Als Übender und Spielender berührt man ein Instrument, und diese Berührung ist ein extrem libidinöser Vorgang. Spielt man mit Freude, ist immer auch Liebe im Spiel. Man spielt mit dem Instrument, man spielt mit sich selbst, man spielt für andere, man spielt mit dem Universum.
Summa summarum: Klavierüben und Klavierspielen ist etwas ganz und gar Wunderbares! Man sollte nicht darauf verzichten!
Will man sich einlesen, empfehle ich: 1) Hanns-Josef Ortheil: Wie ich Klavierspielen lernte (da kann man die einzelnen Übungsschritte anhand einer kindlichen und jugendlichen Biografie verfolgen) und 2) Hanns-Josef Ortheil: Das Verlangen nach Liebe (in diesem Roman ist die männliche Hauptfigur ein Pianist, und man erfährt nebenbei viel über sein Spiel, die Proben, die Auftritte).
Meine venezianischen Freundinnen und Freunde schicken mir laufend Fotos, auf denen man gut gelaunte und entspannte Menschen auf den venezianischen Calli und Campi sieht. Draußen darf man anscheinend ohne Masken sitzen und sich unterhalten. Und warum? Weil man etwas trinken und essen möchte – und das geht nun mal nicht mit Masken. Und daraus folgt was? Daraus folgt, dass man möglichst ununterbrochen etwas trinkt und isst, damit man keine Masken in Anspruch nehmen muss. Und das bedeutet? Das bedeutet: In Venedig setzt man auf typisch venezianische und gewitzte Weise venezianische Lockerungskonzepte um. Nichts wie hin!
Verblüffend ist außerdem, dass die Kanäle weitgehend ausgetrocknet sind. Acqua bassa… – raunt man in jedem Laden und versucht, sich dieses seltene Phänomen zu erklären. Wer ist schuld? Ist es der Wind oder der Mond oder das anhaltende Hoch oder der Sahara-Staub – oder hat vielleicht jemand versehentlich den Knopf der Hochwasserschutzanlage Mose gedrückt, die eigentlich die Meeresfluten von der Stadt fernhalten soll? Die Gerüchteküche brodelt…
Zuletzt eine gute Nachricht: Im April wird im Verlag der Anderen Bibliothekdas schönste Venedig-Buch, das ich kenne, erscheinen: Venedig im achtzehnten Jahrhundert.
Der Schriftsteller Philippe Monnier hat es 1907 in französischer Sprache veröffentlicht, erst zwanzig Jahre später ist die deutsche Übersetzung erschienen. Sie war fast ein Jahrhundert lang nicht mehr im Handel, Mitte April 2021 ist sie in einer gut ausgestatteten und eleganten Neuauflage zu haben.
Ich habe das Nachwort zu dem wunderbaren Text geschrieben – und ich sage ganz unbescheiden und stolz: Dieses Nachwort hat es in sich!!
Wer das Buch erwerben möchte, sollte es rechtzeitig bestellen, denn die Bücher der AnderenBibliothek sind limitiert!!
Kaum habe ich einige Tage keine Beiträge in diesem Blog veröffentlicht, ereilt mich eine mittlere Woge von Zuschriften vieler Leserinnen und Leser: Wo sind Sie? Ich vermisse Ihre Blogtexte! Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie etwa krank? Kann ich etwas für Sie tun?
Manno. Das hat mich erstaunt. Sogar so sehr, dass ich manche Zuschriften mehrmals las: Bin ich wirklich gemeint? Ist da von meinen Texten die Rede? Ist es so ernst? Was soll ich tun?
Also. Ich sollte kurz erläutern, wie es um mich steht. Punkt 1: Es geht mir gut. Ich bin gesund. Punkt 2: Ich befinde mich in der Endphase meiner Arbeit an einem Roman, der in diesem Herbst 2021 im Luchterhand-Verlag erscheinen soll. Sein Titel: Ombra. Punkt 3: In meinem Verlag bereitet man bereits jetzt das Erscheinen dieses Buches vor. Ende letzter Woche hat eine große Planungssitzung stattgefunden, die das gesamte Herbstprogramm mit den Vertreterinnen und Vertretern des Verlags sowie allen beteiligten Angestellten vorstellte. Die (hoffentlich im Herbst wieder möglichen) Lesungen werden geplant, die Entwürfe für das Buchcover werden diskutiert, die Klappentexte werden abgesprochen etc. Punkt 4: In wenigen Wochen werde ich das fertige Gesamtmanuskript des neuen Romans abgeben. Daher lebe ich jetzt in einer heißen Phase, hochkonzentriert, mit kaum etwas anderem als dem Roman beschäftigt. Punkt 5: In einer solchen Phase noch weitere Texte zu schreiben, ist nicht einfach. Vor allem die Umstellung auf Themen, die mit dem Roman nichts zu tun haben, fällt schwer. Punkt 6: Daher werde ich in den kommenden Wochen nicht täglich einen Blogbeitrag veröffentlichen können. Punkt 7: Wenn das Gesamtmanuskript vorliegt, wird sich der Blick wieder weiten. Punkt 8: Ich danke für die besorgten Mails und dafür, dass viele Leserinnen und Leser sich Sorgen gemacht haben. Ich bin nicht allein – das zu wissen, ist sehr wertvoll. Punkt 9: Ich hoffe auf Verständnis für meine sich zuspitzende Arbeitssituation. Punkt 10: Ich werde es schaffen, bestimmt.
(Am 27. Februar 2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)
Viele meiner Freunde möchten nicht mehr durch die Stadt ziehen und Winkel erkunden, in denen sie sich in früheren Zeiten nie aufgehalten hätten. Inzwischen haben sie jedes ethnografische Interesse an näheren oder weiteren Umgebungen verloren. Mit dem Auto aufs Land möchten sie auch nicht mehr, denn sie wollen keine Wanderwege ablaufen, die genau so aussehen, wie Wanderwege im Regionalprogramm des WDR eben meist aussehen.
Der „stille Fastelovend“ hat ihnen den Rest gegeben. Sich am Rosenmontag ins Haus zu verziehen und den Kommentaren von Guido Cantz zum Hänneschenzug zu lauschen – das war redlich, gut gemeint, aber auch unsäglich brav und damit eine Spur zuviel. Da schmeckten nicht einmal zwei oder drei Kölsch, nichts schmeckte mehr, einige saßen am Abend des Rosenmontags nur noch schweigend in ihren Sesseln und gingen nach frustierenden Stunden früh zu Bett.
All das hat mit Melancholie nichts mehr zu tun, denn diese gute, alte Melancholie hatte weiche, verträumte und diffuse Noten, die sich vor allem in Übergangsstadien bemerkbar machten. Jetzt aber ist alles schärfer und bitterer. Die Pandemie scheint nicht mehr zu vergehen, laufend entwirft sie neue Dramen, während man ihre Daten und Verläufe nicht mehr zur Kenntnis nehmen, geschweige denn auf sie reagieren will.
In den Talkshows sitzen immer dieselben Personen und wirken so, als wären sie seit Jahren dort festgewachsen und wiederholten immer dieselben Texte. Markus Lanz wird grauer und grauer, und Oliver Welke grinst inzwischen so zwanghaft, als bereiteten seine Witze selbst ihm einige Schmerzen. Das Pandemie-Vokabular ist verbraucht, so dass man viele Sendungen lieber gleich ignoriert und sich auf den Mars beamt, wo eine Sonde wenigstens noch so tut, als wäre ihr bloßes Dasein auf dem fernen Planeten bereits weltbewegend.
Wie geht’s, wie steht’s? Die alten, höflichen Fragen wirken inzwischen wie blanker Hohn. Nichts geht mehr, und es steht miserabel und so, als wären Gedanken an eine bessere Zukunft fast aussichtslos. Selbst das vor kurzem noch Hoffnung machende Impfthema scheint bereits überholt, denn man ahnt, dass nach den Impfungen weitere, noch nicht geahnte Katastrophen drohen. Die Bundeskanzlerin hat von der Zeit nach der Pandemie gesprochen, dann soll unser Leben wenigstens digital wieder so richtig abgehen. Sind das etwa schöne Aussichten?
In den Arztpraxen sitzen inzwischen Kinder, die das digitale Leben längst leid sind. Sie starren auf ihr Smartphone, das nur noch ein fettes Rauschen hören lässt. Spricht man sie an, antworten sie nicht mehr. Abwesend, entmutigt und lustlos hocken sie herum und können sich eine andere Zeit kaum noch vorstellen. Auch viele Eltern denken nicht gern an eine Fortsetzung ihres digitalen Lebens im Homeoffice. Dort verschwimmen die vielen Stunden zu einem Lagerkoller, in dem sich Privates mit dem Öffentlichen so lusttötend mischt, wie es selbst George Orwell sich nicht ausdenken mochte.
Wagt man überhaupt noch zu träumen, dann von den einfachsten Dingen. In einem Brauhaus zusammen mit ein paar Freunden zu sitzen und zum Kölsch ein paar Radieschen zu essen. In einer Kirche mit anderen ein Lied zu singen, das man als Kind oft und gerne nicht nur in Kirchen gesungen hat. In der Kölner Philharmonie einen Platz einzunehmen und ein Orchester vor dem Konzert die Instrumente stimmen zu hören. Solche kleinen Momente… – sie wären ein Fest. Ohne sie groß zu bereden, würde man sie genießen, weil man sie noch nie als große Momente erlebt hat. Alles hät sing Zick! – murmelte neulich einer meiner Freunde leise vor sich hin. Wovon sprichst Du?, fragte ich. Vom nächsten Karnevalsmotto! antwortete er. Alles hat seine Zeit…, Altes Testament, Prediger Salomo…- da merkteich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich zu sein…