Klaus Siblewski wird siebzig

(Dieser Glückwunsch für Klaus Siblewski erscheint heute auch auf www.boersenblatt.net.)

Es ist neun Uhr, in wenigen Minuten wird mich mein Lektor Klaus Siblewski anrufen. Alle paar Tage telefonieren wir kurz nach neun miteinander. Nicht nur über den Fortgang meiner literarischen Arbeiten, sondern auch über Neuerscheinungen, die Frankfurter Eintracht, Bergtouren in Bayern oder gerade erschienene Jazz-CDs. Bevor wir in den Tag starten, befreien wir uns von einigen Aufdringlichkeiten und kreisen über den kulturellen Feldern.

Mit niemandem kann ich das so gut wie mit Klaus. Er ist nicht nur der ideale, verschwiegene Zuhörer, sondern auch ein brillanter Returner, der auf bestimmte Stichworte mit mindestens einer noch nie gehörten Geschichte antwortet. Oft hat sie eine humoristische Komponente, denn Klaus Siblewski hat mit vielen Autorinnen und Autoren zusammengearbeitet, die sich auch darauf verstehen: Günter Grass, Ernst Jandl, Franz Hohler, Peter Bichsel, Terézia Mora, um nur einige zu nennen.

Über sich selbst erzählt er in diesem Ton dagegen nur zurückhaltend, obwohl er genau weiß, dass mindestens ein großer humoristischer Roman in ihm schlummert. Es ist der Roman über einen Mann, der seit vierzig Jahren für einen einzigen Verlag als Lektor gearbeitet und alles miterlebt hat, was so ein Lektorenleben an Skurrilem bietet. Ein Roman über ein Urgestein in der deutschen Lektorenriege, das mit den Jahrzehnten selbst zu einer großen literarischen Figur geworden ist.

Klaus ist Frankfurter, das aber nicht nur. Sein Vater kam aus Danzig, seine Mutter aus München, beide begegneten sich nach dem Krieg halbwegs in der Mitte, wo sie mit dem 1950 geborenen Sohn ein Frankfurt-Leben führten, ohne sich jemals wieder nach Danzig oder München auf den Weg zu machen. All diese Welten spielen jedoch weiter in Siblewkis Leben hinein, und wenn es ihn packt, fährt er an die Ostsee, schwimmt dort bei 13 Grad in den Fluten und schafft danach die Elternkehre nach München, in dessen Nähe er auf dem Land lebt und die Berge besteigt.

Im Luchterhand-Verlag hat 1980 alles angefangen, und Klaus erzählt manchmal von seiner ersten Lektorenbegegnung mit einer Autorin. Da saß er bei Gabriele Wohmann in deren Wohnung auf dem Sofa, trank Tee und harrte der Dinge, die da kommen mochten: Was erwartete man von ihm? Wie genau konnte er helfen? Ging es um kleinere Korrekturvorschläge oder um eine eingreifende Mitarbeit an einem in Entstehung befindlichen Text? Und welche Rolle spielte bei alledem Herr Wohmann, der den Tee servierte?

Klaus hatte in Frankfurt Germanistik studiert, sich aber auch in den anderen akademischen Milieus dieser Stadt umgetan. In der Philosophie (nach Adorno), in der Soziologie (nach Habermas), aber auch in der Musikhochschule, wo er Freunde unter den jüngeren Pianisten hatte. Die stärksten Anregungen erhielt er aus den Veranstaltungen und Seminaren des Sigmund-Freud-Instituts. Wenige wissen es, ich aber weiß es genau: Klaus Siblewski ist ein so erfolgreicher und brillanter Lektor geworden, weil er sich jederzeit in Sigmund Freud verwandeln kann. Dann hört er einem ruhig zu, stellt Fragen, urteilt nie und wertet nicht. Er verwandelt das Gespräch über einen Text vielmehr in das Gleiten eines schmalen Bootes auf einem Fluss, der sich seinen Weg durch eine Ebene bahnt. An einer Stromschnelle wird ein Hindernis beseitigt, kleinere Äste werden aufgelesen und beiseite geräumt, und wenn die Fahrt zu langsam wird, verwandelt er sich in einen behutsamen Steuermann und reicht einem ein zweites Ruder.

Wer so mitdenkt, spricht und mitspielt, wird ein Teil des Textes, der entstehen soll. Der fremde Text lebt in ihm und fordert ihn insgeheim auf, das Fremde zu überschreiben. Wie aber wäre das möglich? Indem man sich korrigierend und gestaltend in ihn einschreibt, aber auch, indem man sich aus ihm herausschreibt – in einem eigenen Text. Genau an dieser Stelle lauert die Hürde, mit der sich Klaus Siblewski ein Leben lang beschäftigt und die er umkreist hat wie kein anderer. Sie besteht aus Antworten auf die Frage, wie und was Lektoren eigentlich schreiben. Einen Kontext? Paratexte? Oder lautlos bleibende und versickernde Paraphrasen zu dem, was die Autorinnen und Autoren ihnen anbieten?

Um das auf vielerlei Wegen zu erforschen, konnte Klaus Siblewski nicht nur Lektor bleiben. Er musste Wege und Institutionen finden, die es erlaubten, etwas so wenig Erforschtes wie die Methoden und Techniken des Lektorierens zum Thema zu machen. Nach seiner Promotion hat er Bücher dazu geschrieben und sich später sogar habilitiert. Seit vielen Jahren lehrt er das Lektorieren als Gastprofessor am „Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft“ der Universität Hildesheim und betreut junge Studentinnen und Studenten, die an ihrem Debüt arbeiten. Dort hat er auch die „Deutsche Lektorenkonferenz“ ins Leben gerufen, ein jährliches Treffen von Lektorinnen und Lektoren bekannter Verlage, das er zehn Jahre geleitet hat.

Wohin sollte das führen? Dahin, die traditionell schweigsame Zunft zum Sprechen über ihr Arbeiten zu bringen und darüber nachzudenken, was Lektoren eigentlich tun, wenn sie lektorieren. Das Spektrum dieser Tätigkeiten hat er selbst in seinem Buch „Die diskreten Kritiker“ in Form einer biografischen Bestandsaufnahme fixiert und in anderen Formaten die nächsten Schritte getan. So als Herausgeber von Einzel- und Gesamtwerken seiner Autoren, so als passionierter Biograf (etwa von Ernst Jandl), aber auch als Literaturkritiker („Der Gelegenheitskritiker“) und als Autor eines hinreissend komischen Zwei-Personen-Stücks, indem er sich (konsequent den Lektorenimpuls aufgreifend) in Ernst Jandl versetzte und einen Lektor im Gespräch mit einem seiner Lieblingsautoren inszenierte („Telefongespräche mit Ernst Jandl“).

Daneben hat er Grundlagenforschung betrieben. In drei Büchern („Wie Gedichte entstehen“, „Wie Dramen entstehen“ und „Wie Romane entstehen“) hat er zusammen mit den Schriftstellern Norbert Hummelt, John von Düffel und mir selbst die einzelnen Schritte von Entstehungsprozessen literarischer Werke minuziös aus Autoren- und Lektorenperspektive erläutert. Sie gehören, viel gelesen und besprochen, inzwischen zu den Standardwerken der Forschungen über die ästhetischen Anforderungen des Lektorenberufs.

Heute wird Klaus Siblewski siebzig. Ich bin sicher, er wird einmal mindestens hundert, klug, gescheit, vital und humorvoll, wie er geblieben ist. Irgendwann wird er mir während unserer Telefonate vorsichtig andeuten, dass er an einem biografischen Roman schreibt. „Biografisch“ wird er sagen und nicht „autobiografisch“, um mir nicht in die Quere zu kommen. Ich werde hellwach hinhören und ein paar Fragen stellen. Und dann werde ich, so Gott will, mit meinen wenigen Kräften versuchen, den großen Roman von Klaus Siblewski beratend zu begleiten. Wird mir das gelingen? Ich habe meine Zweifel.

Bis es soweit ist, sage ich vorerst: Mein lieber, guter Freund, ich danke Dir von Herzen für über zwanzig wunderbare Jahre gemeinsamen Tuns, Nachdenkens und Sprechens! Lass uns bitte nicht damit aufhören! Und lass uns schon heute weiterreden: über die Gedichte von Louise Glück, über die neue CD von Michael Wollny und über das nächste Auswärtsspiel der Frankfurter Eintracht (am Samstag, ausgerechnet beim FC in meiner Heimatstadt Köln…).

Mein literarischer Herbst beginnt

Mein eigener literarischer Herbst beginnt am kommenden Sonntag, 18. Oktober 2020, 18 Uhr, mit einer Lesung aus meinem Hemingway-Roman Der von den Löwen träumte im Kulturwerk von Wissen/Sieg (in Bahnhofsnähe). Da ich in diesem Herbst nicht mehr häufig öffentlich auftreten werde, lade ich besonders herzlich zu dieser Lesung ein. (Die geplante Einführung in der Sala Ortheil kann leider nicht stattfinden.)

Am kommenden Dienstag, 20. Oktober 2020, 20 Uhr, lese ich dann in der Romanfabrik Frankfurt ebenfalls aus meinem Hemingway-Roman. Diese Lesung ist leider schon lange ausverkauft.

An neuen Büchern liegen vor: die Taschenbuchausgabe von Wie ich Klavierspielen lernte (Insel-Verlag, gerade erschienen) und schließlich auch das inhaltlich und formal besonders schöne und bestechende Buch In meinen Gärten und Wäldern (DVB Mainz, darüber bald mehr).

Wer in Gedanken nach Italien reisen möchte, für den sind die Italienischen Momente (btb) geradezu ideal. Wer sich aber weiter auf Reisen begeben möchte – dem empfehle ich die im Frühjahr erschienene Taschenbuchausgabe von Die Mittelmeerreise (btb).

Viel Vergnügen und Freude bei all diesen Lektüren, der herbstliche Tisch ist nun wirklich reich gedeckt. 

 

 

 

 

Der literarische Herbst beginnt 2

Jahr für Jahr verfolge ich, welche junge Autorin oder welcher junge Autor mit dem aspekte-Literaturpreis des ZDF für das (nach Ansicht der Jury) beste Debüt eines Jahres ausgezeichnet wird. Sofort nach Bekanntgabe des Namens beschaffe ich mir das ausgezeichnete Buch und lese es besonders gespannt. So ist mit den Jahrzehnten eine kleine Bibliothek von Büchern entstanden.

Das alles tue ich auch aus nostalgischen Gründen, denn mit meinem Debütroman Fermer (noch immer leicht erhältlich bei btb) war ich 1979 der erste Preisträger.

Gestern wurde gemeldet, dass in diesem Jahr Deniz Ohdes Roman Streulicht  (Suhrkamp Verlag) für preiswürdig befunden wurde. In der aspekte-Literaturgala am Freitag, 16. Oktober 2020, 23 Uhr (ZDF), kann man ihr begegnen und mehr über das Buch erfahren. Bis dahin habe ich es gelesen.

Und, wie versprochen, noch ein Hinweis für das Verfolgen der diesjährigen Buchmesse im Netz. Die Verlage C.H.Beck, dtv und Hanser präsentieren ab morgen (Mittwoch) auf der Messeseite www.buchmesse-daheim.de interessante Gespräche und Dokumentationen über ihre neuen Bücher.

 

Der literarische Herbst beginnt 1

Heute beginnt der literarische Herbst 2020! Früher war dieser Montag der erste Tag der Buchmessenwoche in Frankfurt, in diesem Jahr fällt die Präsenz der Verlage in den Messehallen aus den bekannten Gründen aus.

Für die interessierten Leserinnen und Leser ist das aber nicht unbedingt ein Nachteil, schließlich ist nur ein geringer Prozentsatz nach Frankfurt aufgebrochen, um die Messe live zu erleben. Und was erlebten sie da? Volle Gänge, Verlagskojen, in denen sich vor allem die Mitarbeiter der Verlage begegneten und austauschten – und einige Bühnen, wo Autorinnen und Autoren zum Gespräch gebeten wurden (und wo oft kaum ein Wort zu verstehen  war). Ein wirkliches Vergnügen war das nie, vielmehr konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Messe ein großes Ereignis für die Verlage, nicht aber für die Leserinnen und Leser ist.

Die eigentlichen Höhepunkte waren denn auch die abendlichen Verlagseinladungen, zu denen vor allem Presse- und Medienleute geladen waren. Daraus entwickelte sich ein richtiger Sport: Wer schafft an einem Abend den Besuch möglichst vieler Verlagsmeetings? Welche sind die originellsten: die protzigen Haute Cuisine-Einladungen im Frankfurter Hof oder die eher verträumten Kaffee-und-Kuchen-Arrangements im Hessischen Hof oder gar die eher rustikalen in einer Äppelwoi-Schenke in Sachsenhausen? Wer mehrere Einladungen hintereinander besuchte, war oft die halbe Nacht bis in den frühen Morgen unterwegs und traf dann gegen zehn oder elf Uhr am nächsten Morgen auf dem Messegelände ein, um dort auf die ziehenden Scharen der stocknüchternen Leserinnen und Leser zu treffen.

Da solche Begegnungen diesmal ausfallen, konzentrieren sich Verlage und Medienmaschinerien diesmal auf die digitale Präsentation der Messe. Und die war noch nie so umfangreich und interessant wie in diesem Jahr! Ein Glück für alle Leserinnen und Leser, die sowieso nicht nach Frankfurt gefahren wären und sich nun vieles von zu Hause an anschauen können!

Meine Empfehlung: Auf www.buchmesse.de starten und sich genau dort umschauen: Was sehe ich ab heute und in den nächsten Tagen?

Das Großangebot dann durch kleinere Angebote ergänzen, zum Beispiel durch die des SPIEGEL: www.spiegel.de/buchwoche

Ich wünsche viel Vergnügen und melde mich in dieser Woche mehrmals mit Hinweisen und Kommentaren.

 

 

Twittern im Frühherbst 2

Kaum habe ich einmal zehn Minuten (länger geht nicht) in Jan Böhmermanns Twitterbuch Gefolgt von niemandem, dem du folgst. Twitter-Tagebuch. 2009-2020 (Kiepenheuer & Witsch) gelesen, haut mein anscheinend in einer Nebenrinde beherbergter Twitterspeed-Account einen Tweet nach dem andern raus. Ich kann nichts dagegen tun. Nur aufschreiben… – und dann mit Gewalt abdrehen…

Kaum dass ich in einem bestimmten, mir besonders lieben Ort angekommen bin, möchte ich ihn nie mehr verlassen. Das ist relativ neu. Was steckt bloss dahinter?

Wenn mich etwas sehr begeistert und ich einem Freund davon erzähle, er aber rasch  abwinkt, verlässt mich seit einiger Zeit sofort die Bereitschaft, mit ihm zusammen noch einen einzigen Schritt zu tun. Und was hat das nun zu bedeuten?

Seit einiger Zeit sehe ich hinter lauter Alltäglichem etwas Bedrohliches. Nein, mit Corona hat es nichts zu tun. Eher damit, dass mich anscheinend jemand warnen und auffordern möchte, in Kampflaune zu bleiben. Ich?! In Kampflaune?!! Seit wann denn das?

Spaghetti al pomodoro

Der Ernährungswissenschaftler Massimo Montanari hat ein kurzweiliges Buch über die bekannteste italienische Mahlzeit, Spaghetti al pomodoro, geschrieben.

Fast jeder glaubt dieses Gericht in all seiner Schlichtheit gut zu kennen, während Montanari seine lange Geschichte Stufe für Stufe auf verblüffende Weise entfaltet: Alles beginnt mit der Erfindung, Nudelteig platt zu walzen und in feine Bindfäden zu zerlegen. Anfänglich verschwinden sie noch unbeachtet in einem Eintopf. Später werden sie zum Hauptgericht einer Pasta, die danach mit den aus Mexiko importierten Tomaten und scharfen Chilischoten verbunden wird. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Gericht als Zugabe noch einen Schuss Olivenöl und wurde zu einem Symbol „mediterraner Diät“.

Spaghetti al pomodoro ist eine faszinierende Kulturgeschichte einer kleinen Mahlzeit, die nie besonders „italienisch“ war, sondern eher ein Gericht ist, das die Errungenschaften mehrerer Weltkulturen miteinander verbunden hat. Eine Appetit machende Lektüre, nach der man diesen Klassiker der Esskunst nicht nur besser verstehen, sondern auch noch intensiver genießen wird! Und nicht zuletzt ein ideales Geschenk, um sich für die Einladung zu einer Mahlzeit bei Freunden zu bedanken!

Massimo Montanari: Spaghetti al pomodoro. Kurze Geschichte eines Mythos. Aus dem Italienischen von Victoria Lorini. Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Laschet, der Papst und Karl der Große

(Heute auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Seit meine Freunde die Bilder vom Besuch Armin Laschets bei Papst Franziskus in Rom gesehen haben, besteht für sie nicht mehr der geringste Zweifel, dass er der nächste Kanzlerkandidat der Union sein wird. Wie er da in seinem dunklen Kommunionsanzug exakt auf Augenhöhe mit dem gut gelaunten Pontifex in dessen Privatgemächern vor einem leer geräumten Schreibtisch saß, erkannten alle, dass ihm das so schnell niemand nachmacht.

Natürlich sind die beiden tief ins Existentielle abgetaucht und haben sich dem naheliegenden Thema der neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ – wörtlich: Alle (sind) Brüder – gewidmet. US-Außenminister Pompeo hatte sich mit in den Brüderbund einreihen wollen, war aber nicht vorgelassen worden, schließlich befindet er sich – anders als Laschet – im Wahlkampf.

Ganz Staatsmann mit außenpolitischem Flair überbrachte der Aspirant auf den CDU-Vorsitz die Grüße seiner mutmaßlichen Vorgängerin Angela Merkel und beantwortete Fragen dazu, wie der Papst die innenpolitischen Debatten in der CDU bewerte, mit sokratischer Gelassenheit: „Der Papst weiß mehr, als wir glauben.“ Was wir in Deutschland momentan so alles glauben, spielt da keine Rolle, der Papst weiß es sowieso und zieht daraus seine Schlüsse.

Da Armin Laschet inzwischen mehr weiß, als er sagt, glaubt er fast sicher, dass der Papst seine Einladung nach Nordrhein-Westfalen annehmen wird. 2021 steht wieder die Wallfahrt zu den großen Aachenern Heiligtümern an. Schon zur Zeit Karls des Großen reisten die ersten Pilger in Laschets Geburtsstadt, und da Laschet ja wahrscheinlich von Karl dem Großen abstammt, könnten die Pilgerzüge als Teil seiner Krönung zum neuen Kanzlerkandidaten fungieren.

Das würde endlich mal wieder an die alte deutsche Geschichte erinnern, als Karl der Große noch „Europa“ war. Auf diesem europäischen Weg liegt Laschet meilenweit vor Politikern, die zum Beispiel aus Brilon stammen und in der Jugend, statt den Katechismus auswendig zu lernen, Tag und Nacht Gitarre gespielt haben. Laschet sang fleißig in einem Jugendchor.

In Rom könnte er Papst Franziskus versprochen haben, ihm nächstes Jahr im Aachener Dom den Thron zu präsentieren, auf dem dreißig deutsche Könige einst nach ihrer Krönung Platz nahmen. Der Pontifex soll schon jetzt sehr beeindruckt gewesen sein und eine weitere, dann auch an die weiblichen Brüder (besser bekannt als Schwestern) gerichtete Enzyklika in Aussicht gestellt haben: „Sorelle tutte“.

 

Blitzgeburten

Ich spüre sehr genau, in wenigen Sekunden, wenn ich von Musik, Malerei, einer Fotografie, einem Film oder einem Text angesprungen werde. Es ist eine plötzliche, heftige Inbesitznahme, als verliebte ich mich unerwartet in jemanden, der mir eigentlich sehr fremd ist.

Warum das so geschieht, weiß ich nicht. Ich kann dazu nichts sagen, höchstens soviel, dass es nichts mit den üblichen „Kenntnissen“ zu tun hat, die man sich aneignet und oft ins Spiel bringt, wenn es um Artefakte geht. Ich folge keinen Lobesworten anderer, und ich folge erst recht keiner didaktischen Aufgeblasenheit.

Es ist viel einfacher und schöner: Ich sehe hin, ich höre zu, ich lese – und es ist um mich geschehen. Ich bin „weg“, im Reich meiner Gefährten und Zauberer, die mich danach ein Leben lang nicht mehr loslassen werden.

Vielleicht wurde ich seit den Kindertagen auf unentdeckte Art durch solche Eruptionen geführt. Ohne sie zu begreifen oder mir länger zu vergegenwärtigen. Ja, es könnte sein, dass genau diese hinreissenden Blitzgeburten es letztlich waren, die mich vor allem am Leben erhalten haben.

Italien erfindet den Herbst und das Frühjahr

(Am 3./4. Oktober 2020 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

Anna und Herbert sind nun doch in den italienischen Süden gereist, wohin sie eigentlich schon im Frühjahr reisen wollten. Erst jetzt haben sie es gewagt, da die Zahlen der Neuinfizierten relativ niedrig sind und sogar noch unter den Zahlen in Deutschland liegen. Zuletzt war das Freundespaar mindestens einmal im Jahr in Italien und glaubte eine Idee davon zu haben, wie man dort auf Corona reagiert. Nun aber lernen sie das Land und seine Menschen neu kennen, und viele alte Vorstellungen erweisen sich als überholt.

Denn anders als gedacht, begegnet man in den italienischen Geschäften und Läden keinen Nichtmaskierten. Verkäufer wie Kunden gehen mit den Masken so selbstverständlich um, als bräuchte man darüber keine Worte mehr zu verlieren. Auf den Straßen und an den Stränden sieht man viel seltener als früher größere Menschengruppen. Stattdessen bewegen sich die Spaziergänger zu zweit oder mit der Familie, aber auch solo. Ganz allein können jedoch viele nicht sein, und so hat das Smartphone eine noch größere Bedeutung als früher. Frauen wie Männer tragen es wie eine kleine Monstranz vor sich her, schauen auf das Videobild, mit dem sie sich unterhalten, und haben nicht die geringste Scheu, das auch temperamentvoll und laut zu tun.

Anna und Herbert haben eine solche Lautstärke auf den Straßen noch nie erlebt. Manchmal hat sie die Wucht eines dramatischen Monologs, und fast jeder hört sich so an, als ginge es um hochexistentielle Fragen. Die Themen sind aber eher alltäglich und schlicht, nur dass sie jetzt ausgereizt und bis an bestimmte Grenzen getrieben werden. Eine Spur von Wut und Isolation lauert hinter diesen Wortkaskaden, und nur die Schulklassen traben ruhig und fast ergeben durchs Freie, weil die Lehrer jede Sonnenstunde nutzen, um Unterrichtsstunden in Klassenzimmern zu vermeiden. Im Freien finden sich auch viele Gläubige ein und erleben dort auf den Plätzen rund um die Kirchen Gottesdienste, die lautstark aus dem fast leeren Inneren nach draußen übertragen werden.

Der vorgeschriebene Mindestabstand beträgt nicht wie in Deutschland 1,5 Meter, sondern nur einen Meter – was letztlich dazu führt, dass es keinen gibt. In öffentlichen Gebäuden und den Einkaufszonen achtet man noch darauf, nicht aber in den Restaurants, wo Grenzen und Separierungen von Tisch zu Tisch einfach unmöglich erscheinen. Anfänglich winkt man sich noch zu, dann aber springen die vertrauten Funken rasch wieder über, und die Tischbesatzungen wechseln und mischen sich.

Die mit monatelanger Verspätung begonnene Sommersaison an den Stränden ist nun zu Ende. Plexisglasscheiben zwischen den Strandliegen hat es zum Glück nicht gegeben, stattdessen hat man einfach jeden Quadratmeter genutzt und mehr Liegen als früher streng in Reih und Glied mit kaum merklichen Abständen aufgestellt. Erstaunlich viele Herbstfestivals mit Lesungen, Theater, Film und Musik werden bald im ganzen Land stattfinden, die Filmfestspiele in Venedig haben Mut gemacht, und der morgige Start des Giro d’Italia in Sizilien wird noch mehr Mut machen.

Auch die Medien bemühen sich um die gute Laune von früher. Anna schickte mir Fotografien von den vielen Seiten, auf denen in den Zeitungen die neuste Mode für Frauen und Männer in aufwendigen Fotografien und Skizzen vorgestellt wird. Strahlendes Weiß ist die Farbe der Saison, notierte ich mir, Weiß und lange Hosen aus Naturstoffen – bis ich bemerkte, dass es längst nicht mehr um den modischen Herbst geht. In Italien entwirft man vielmehr die Trends des kommenden Frühjahrs, und wenn man der Sehnsucht wieder Raum lässt, könnte man sich eine Zeit des Aufblühens vorstellen: grelle Monochromien mit winzigen Blütenmotiven.