Palmsonntag

Am Palmsonntag des Jahres 1714 (der damals wie in diesem Jahr auf den 25. März fällt) dirigiert der gerade zum Hofkonzertmeister des Weimarer Hofes ernannte (noch nicht einmal dreißigjährige) Komponist Johann Sebastian Bach die erste Kantate, die er für den  Hof geschrieben hat. Sie heißt (dem besonderen Festtag entsprechend) Himmelskönig, sei willkommen und erhielt im Bachwerkverzeichnis später die Nummer einhundertzweiundachtzig.

Die Kantate beginnt mit einer Sonata, in der das Duo von Violine und Blockflöte einen Gehweg intoniert. Ein Näherkommen, mit langsamen Schritten, ein Sich-Einfinden. Die Violine liefert das strahlende, noble Moment, die Blockflöte das dunklere, verhaltenere. Bis heute streitet die Forschung darüber, welches Instrument der junge Komponist Bach am 25. März 1714 während der ersten Aufführung gespielt haben könnte. Lassen wir sie debattieren – und hören wir stattdessen hin: Die Sonata ist ein Introitus zur Karwoche … – danach meldet sich der Chor: Himmelskönig, sei willkommen, lass auch uns Dein Zion sein …

Dreißig Jahre

Dreißig Jahre haben Martina & Moritz im WDR (immer samstags, 17.45 Uhr) gekocht, heute war die Jubiläumssendung! Es gab einige meiner Lieblingsgerichte, darunter (unbedingt!) Calamaretti oder auch Kalbsleber oder auch schwäbischen Kartoffelsalat, und wir Fernsehzuschauer durften zuschauen, wie Dietmar Bär vor jedem Festgang mit Moritz (Neuner-Duttenhofer) in dessen hauseigenen Weinkeller pilgerte. Zu jedem Gang wurde ein frisches Glas Wein (aus Spanien oder Griechenland oder der Pfalz …) ausgeschenkt, und Dietmar Bär hatte einen Rosé fu (ebenfalls aus der Pfalz) mitgebracht, dessen Namen er nicht verriet. Ich ahnte aber sofort, welchen Rosé fumé aus der Pfalz er genau meinte, denn dieser Wein gehört auch zu meinen Lieblingsweinen.

Ja, so ist das bei Martina & Moritz. Von Woche zu Woche lebt man im natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten mit den beiden Erfindern und ihren klug und mit viel Sachverstand komponierten Gerichten. Dass sie in ihrer Hausküche ans Werk gehen, erkennt man an jedem Handgriff und daran, wie wohl sich die beiden fühlen. Kein Studio, keine künstlich herausgeputzten Atmosphären, keine Haute Cuisine (nichts dagegen, aber sie braucht sehr viel Zeit), sondern: Über das, was Garten und Markt gerade an Frischem bieten, machen die beiden sich tiefe Gedanken und luchsen selbst den bekanntesten Zutaten die bestmögliche Herstellung eines Gerichts ab. Ein scharfer Blick auf jede einzelne Zutat, Erfahrung bei der Kombination von Gewürzen und im Anmachen von Saucen und Zitronetten (!) sowie eine Freude am unkomplizierten, zupackenden und ergebnislüsternen Kochen – das macht ihre ganz besondere Kunst aus!

Und: Dass sie zu zweit kochen, Hand in Hand – und doch mit dem (manchmal durchaus ironischen) Blick auf den anderen! Ironie, Humor – niemand versteht diese beiden Tugenden so sehr als perfekte Kochzutaten wie die beiden, die auf einem großen Gut in  der Nähe von Stuttgart leben. Ich gratuliere und danke für all die Lebensfreude, die durch diese beste Kochsendung im deutschen Fernsehen bei uns Zuschauern „einziehen“ kann (so hätte man vor dreißig Jahren noch ganz richtig gesagt). Und ich empfehle (neben den vielen Mitschnitten ihrer Sendungen in der WDR-Mediathek) den Grundkurs. Nein, er heißt nicht Mit dem Schreiben anfangen, aber doch ganz ähnlich (Martina Meuth  & Bernd „Moritz“ Neuner-Duttenhofer: Unsere 111 besten Küchentipps. Edition Essentials 2017).

 

Die Speisen des Lebens 1

Die amerikanische Autorin Cara Nicoletti ist in einer Metzgersfamilie groß geworden. Zwei starke Passionen hat sie in ihrem Leben entwickelt und es geschickt verstanden, beide miteinander zu verbinden: Lesen und Kochen, Kochen und Lesen.

Ihr wunderbares Buch Yummy Books! In 50 Rezepten durch die Weltliteratur (Suhrkamp Verlag 2017) ist das Resumé dieser Verbindungen. Konsequent folgt sie darin starken Kochimpulsen und in Erinnerung gebliebenen Lesespuren, indem sie in der Kindheit beginnt und sich über die Jugend- und Studienzeit bis ins Erwachsenenalter fortbewegt. Was habe ich wann am liebsten gegessen und gekocht – und warum? Und welche Speisen oder gar Kochrituale tauchten in jenen Büchern auf, die ich gleichzeitig gelesen habe?

Cara Nicoletti liest also mit gastrosophischer Perspektive und kocht wiederum mit dem Blick einer Leserin, die Speisen literarische Auftritte erleben und feiern lässt. Was verbindet Pippi Langstrumpf mit Buttermilchpfannkuchen (Kindheit), was den Fänger im Roggen mit Malzmilch-Eiscreme (Jugend) und was Emma mit einem perfekt weichgekochten Ei? (Erwachsenenalter)

Das besonders Schöne an Cara Nicolettis Buch ist aber letztlich ihr Temperament. Sie schreibt schwungvoll, leicht berauscht und vom Kochen und Lesen so hingerissen, dass man am liebsten zusammen mit ihr in einer Küche arbeiten und (in den freien Stunden) lesen würde. So nämlich hat sie selbst es vorgemacht, in vielen New Yorker Restaurants und später zu Hause, wenn sie sich mit ihren Freunden darüber unterhielt, welche Bücher sie gerade beschäftigten. Ohne lange darüber zu reden, zeigt sie, dass ein Leben ohne Passionen grau und fad bleibt. Cara, Meisterin – längst sind wir Dir gefolgt und schreiben an unserem eigenen KochLektürePassionsDing!!

 

 

Anekdoten (nach Heinrich von Kleist) 5

Nachdem ein Wärter des Kölner Zoos seinen Seelöwen die wunderbare Erzählung des Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil (aus seinem Buch Was ich liebe und was nicht, S. 84) über die Verliebtheit einer Seelöwin im Kölner Zoo an mehreren Tagen jeweils mehrmals vorgelesen hatte, gerieten die durch diese Rezitationen in Furor geratenen Seelöwen so außer sich, dass sie ihr Treiben und Schreien die Nächte durch fortsetzten. Da sich eine Anwohnerin dadurch erheblich in ihrer Nachtruhe gestört fühlte, prüften die Behörden die ungewöhnliche (und von Nacht zu Nacht sogar noch mehr anschwellende) Lautstärke des Seelöwentönens und kamen dabei zu Messungen von Werten, die das zulässige Maß erheblich überschritten. Die Direktion des Zoos geriet dadurch in einige Verlegenheit, wusste doch niemand von ihren Tierkennern und Tierverstehern, was in die sonst so friedlichen und fast lautlosen Tiere gefahren war. Erst als der Wärter länger und eindringlich befragt wurde, kam man der Ursache der Verhaltensänderung der Seelöwen auf die Spur. Dementsprechend wurde der Mann gebeten, die Rezitationen nun mit Ortheil-Texten von stillen Spaziergängen auf dem Land fortzusetzen, in denen keinerlei Tiere vorkamen. Die Behandlung verlief schon nach der ersten Lesung derart erfolgreich, dass die Anwohnerin (selbst eine begeisterte Ortheil-Leserin) dem Kölner Zoo fünf Exemplare Was ich liebe und was nicht schenkte. Aus dem Verkaufserlös der Bücher wurden Heringe bester Qualität für eine besonders opulente Seelöwenfütterung gekauft, was den zu diesem festlichen Anlass herbeigeeilten Schriftsteller sofort zu einem neuen Buchtitel inspirierte: Welche Tiere ich liebe und welche nicht (Quelle: FAZ vom 8. und 9. März 2018)

Interview 1

Interviewerin: Herr Ortheil, Sie treffen heute den Bundespräsidenten, stimmt das? Ortheil: Ja, stimmt. Frank-Walter Steinmeier ist jetzt ein Jahr im Amt. In dieser Zeit hat er alle sechzehn Bundesländer besucht. Zuletzt war und ist Rheinland-Pfalz an der Reihe – und genau heute steht die allerletzte Station dieser Deutschlandreise auf dem Programm. Interviewerin: Und wo treffen sie ihn? Ortheil: Das ist kurios, ich treffe ihn und seine Frau Elke Büdenbender im Geburts- und Heimatort meiner Eltern, der kleinen westerwäldischen Stadt Wissen an der Sieg. Wissen (und seine Umgebung) ist nicht nur der uralte Lebensraum meiner Verwandten, sondern auch mein eigener Kindheitsraum. In vielen Romanen habe ich über diesen Raum geschrieben. Im Grunde habe ich jeden Feldweg, jedes Flüsschen, jeden Waldsee, einfach alles an natürlicher Umgebung, was mich geprägt hat, in meinen Romanen porträtiert. Interviewerin: Worüber werden Sie mit dem Bundespräsidenten sprechen? Ortheil: Das wird sich ergeben. Ich denke nicht an bestimmte Themen. Es sollte ein gutes, frei improvisiertes Gespräch werden. (Das Interview führte Hanna Bernike.)

Michael Rutschky ist gestorben

Als ich heute früh lesen musste, dass Michael Rutschky gestorben ist, wollte ich es nicht glauben. Michael Rutschky kann nicht gestorben sein, dachte ich, nein, das darf nicht sein.

1979 hatte ich mein erstes Buch (den Roman Fermer) veröffentlicht. Kurze Zeit später las ich Rutschkys Erfahrungshunger, einen großen Essay über die achtziger Jahre. Ich war begeistert, von der Methode, vom Stil, vom Stoff. Rutschky erzählte fiktive Biografien von Menschen, deren Details er unter Zuhilfenahme von soziologischen oder philosophischen Theorien deutete. Der Trick bestand darin, die Theoriepartien ebenfalls in Erzählung aufzulösen und die beiden Erzählstränge (die der Lebenspraxis und die der Theorie) aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknoten. Die Theorie konnte sich an der Lebenspraxis beweisen, wie umgekehrt die Lebenspraxis (offen, nach Deutung schreiend) die Theorie anzog, um erst ganz zu sich zu finden.

Über Erfahrungshunger schrieb ich eine meiner ersten längeren Rezensionen (für den Merkur, dessen Redakteur Rutschky einige Zeit war). Ich machte seine Bekanntschaft, besuchte ihn und wurde eingeladen, mich an einigen seiner im Suhrkamp-Verlag erscheinenden zeitdeuterischen Anthologien zu beteiligen. Mit ihm in seiner Wohnung zusammen zu sitzen oder in einer Stadt (München, später Berlin) unterwegs zu sein, war ein intellektueller Genuss, spannte er einen doch ohne Umstände in seine essayistischen Denkwege ein. Es bedurfte nur eines kleinen Details (einer Nachricht, einer biographischen Merkwürdigkeit) – und schon wurde dieses Detail, als wäre es Gegenstand einer literarischen Form von Psychoanalyse, auf seine Hintergründe hin befragt. Das ging nicht ohne Ironie und Humor ab, mit deren Hilfe sich Michael Rutschky den denkerischen Ernst vom Leib hielt. „Lebensromane“ zu studieren (geduldig, ohne fremd wirkendes Fachvokabular) – das war sein zentrales Thema, das er meisterhaft anging und variierte (so dass der Meister auch viele jüngere Schüler hatte).

Im Laufe der Jahre habe ich all seine Bücher, eins nach dem andern, gelesen, in meiner Bibliothek existiert eine Michael-Rutschky-Bücherschlange. Eines der letzten habe ich noch einmal besprochen und mich gefreut, als ich eine Mail von ihm erhielt. „Wann sehen wir uns? Melden Sie sich, wenn Sie in Berlin sind! Kommen Sie bald wieder vorbei!“

Nein, ich kann nicht glauben, dass Michael Rutschky gestorben ist.

 

 

Ferne Liebe

Von 1971 bis 1998 war Elisabeth Borchers Cheflektorin des Suhrkamp-Verlages. Am 3. Juni 1999 beginnt sie mit Aufzeichnungen, in denen sie vor allem auf diese Zeit zurückblicken will. „Kein Pardon soll gegeben werden“, schreibt sie, keine Rücksichten also, sie will Abstand und Zuneigung (zu bestimmten Autoren und Mitgliedern des literarischen Betriebs) ohne Umwege resümieren. Damals, im Juni 1999, lebt sie (ganz deutlich erfahrbar) immer noch mit Herz und Seele im Gehäuse des Verlages, den sie gerade erst ganz verlassen hat. Der Verlag und seine Autoren diktieren die Motive und Themen. Siegfried Unseld (der Großverleger) und Marcel Reich-Ranicki (der Großkritiker) wohnen in der Nähe, sie stecken die Extreme des literarischen Feldes „Suhrkamp“ ab, in dem die Autoren (meist überschätzt, Hochstapler, Wichtigtuer – so sieht die Lyrikerin Borchers das jetzt) irrlichternd herumgeistern.

Meine gestrige Lektüre war zunächst nichts als Neugierde und richtete sich auf die typischen Betriebsinterna. Martin Walser, Max Frisch, Uwe Johnson – abgewinkt, zur Seite geschoben. Marie Luise Kaschnitz – schwierig im Umgang, nicht bereit, sich den kritischen Überlegungen der Lektorin zu stellen oder gar zu unterwerfen. Ich las eine Weile und geriet in tiefste Melancholie. Was für aufgeblasene Welten … – so war das also in diesen Jahren, in denen die genannten Autorennamen noch Götterstatus hatten!

Irgendwann hätte ich aufgehört, mich weiter in diesen Dunkelzonen zu bewegen, die Melancholie hätte mir so zugesetzt, dass ich die Aufzeichnungen von Elisabeth Borchers (die in ihrem Nachlass gefunden und nun veröffentlicht wurden – siehe gestrigen Eintrag) beiseite gelegt hätte. Dann aber veränderten sich Ton, Motive und Themen. Die Verlagsinterna verblassten, die Lyrikerin Elisabeth Borchers befreite sich (unmerklich, unter dem Sog einer Liebesemphase) von ihnen. Plötzlich irrlichterten nicht die vielen Namen, sondern geisterte die Gestalt (oder Figur) eines einzelnen Menschen in diesen knappen Zeilen herum: Wo bist Du? Wann kann ich Dich erreichen? Warum rufst Du nicht an? Wann sehen wir uns wieder? Ich folge Dir in Gedanken und Träumen, und Du ahnst es vielleicht nicht einmal …

Als aus Elisabeth Borchers Aufzeichnungen ein Buch der verfehlten Liebesemphase wurde, habe ich es (bis in die Nacht) zu Ende gelesen. Was macht man, wenn man so etwas gelesen hat? Einen so „andächtigen“, „sehnsüchtigen“, nicht enden wollenden Hymnus auf die eine Liebe, die sich nicht mehr zeigen darf und erst recht nicht vollenden will? Ja, was macht man, wenn einen die Trauer um diese Vergeblichkeit am Ende voll erwischt hat und nicht mehr loslässt?

Ich fuhr durch die die Nacht, stundenlang, wie ich es so gern mache, wenn der Schlaf kein Ausweg mehr ist …

 

Nein, liebe Freundin …,

ich bin nicht in Leipzig, keinen einzigen Tag, nicht mal ein paar Stunden. Ich verfolge auch die Interviews und Gespräche dieser Buchmesse nicht, nein, ich tue es nicht. Es ist unerwartet kälter geworden, die wenigen Vorfrühlingsspuren verblassen. Ich bin unterwegs und schaue nach den kleinsten Erstblühern, als hätten sie sich raffiniert vor mir versteckt, damit ich sie suche und finde. Sie mischen sich unter das alte, geflochtene Herbstlaub oder drücken sich in die porösen Ritzen der Trockenmauern. Die meisten halten engen Bodenkontakt, ein Kauern, Hocken, Lauern, kaum kenntliche Farbwucherungen, Tupfer in Halbfarben, blasse Nasen, Stielaugen, wacklige Ohren, nichts darunter, was sich hervortraut. Und: Ach ja, in der Uralttasche trage ich Elisabeth Borchers Nicht zur Veröffentlichung bestimmt (Weissbooks 2018) mit mir herum, ein gerade erschienenes Buch, von dem mir gestern jemand erzählte und das mir heute jemand geschenkt hat. Ein Fragment …- lese ich … und lese und lese … – und weiß schon nach wenigen gedehnten Minuten: dabei bleibe ich bis tief in die Nacht … – bei diesem Fragment.

 

Elena Ferrante – Leipziger Buchmesse 2

Meine Freundin K. ist seit dem Erscheinen von Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie mit kaum etwas anderem als diesen Büchern beschäftigt. Schon dem ersten Band war sie so verfallen, dass sie alles weitere Leben einstellte, bis sie das Buch gelesen hatte. Das Warten auf den zweiten Band erwies sich als eine Qual, und das Warten auf den dritten und vierten war die Hölle. Kaum eine Lektüre hat meine Freundin in ihrem Leben derart in Atem gehalten und hingerissen wie diese vier Bände. Ihre Ferrante-Faszination hat den ganzen Freundinnen- und Freundeskreis angesteckt, die Bücher wanderten unaufhörlich von der einen zur anderen Leserin, und wenn ich mich mit einem Mitglied dieser Kreise zufällig in der Stadt traf, war von nichts anderem die Rede. Bisher habe ich noch keine einzige Zeile dieser Romane gelesen, ich habe mich zurückgehalten, obwohl mich allein schon die vielen ausgefallenen Kommentare der Leserinnen in meiner Umgebung längst überzeugt hatten, dass ich sie lesen müsse. Unbedingt! Sofort! Und alle vier hintereinander!

Zwischendurch habe ich Filme über das Ferrante-Neapel gesehen, und ich erfuhr nebenbei, dass Hillary Clinton die Lektüre dieser Bücher zu einem der kostbarsten Ereignisse ihres Lebens gezählt hat. Auch der amerikanische Starkritiker James Wood (ausgerechnet, ich schätze seine hypergescheiten Essaybücher sehr) soll schließlich in einer seiner Starkritiken so von den Fähigkeiten dieser Autorin geschwärmt haben,  dass ihre Bücher in den USA zu Hunderttausenden verkauft wurden. Mein Interesse konzentrierte sich auf die Interviews, die Elena Ferrante in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gegeben hat – alles, ohne Ausnahme, hochgradig kluge und nirgends verschwafelte Kommentare dazu, wie ihre Romane entstanden sind. Kein Wort aber zu ihrer Biografie, „Elena Ferrante“ ist ein Pseudonym, die Schriftstellerin dieses Namens möchte unerkannt bleiben, denn ihre Bücher sollen ganz für sich selbst sprechen. (Dass irgendein Journalist inzwischen alles daran gesetzt hat, dieses Geheimnis zu lüften, hat mich nicht weiter beschäftigt, ich habe, als ich von den abstoßenden Methoden und Absichten dieser „Enthüllungen“ erfuhr, nichts davon zur Kenntnis genommen.)

Natürlich ist Elena Ferrante während der diesjährigen Leipziger Buchmesse d a s große Betriebsgesprächsthema (siehe meinen gestrigen Kommentar zum Thema „Betriebsgespräche“). Im Eingangsbereich von Halle 4 versammeln sich ab 10 Uhr täglich die unter dem Ferrante-Fever Leidenden zum Austausch über die Fotoreportage Wo ist Elena Ferrante? des neapolitanischen Fotografen Ottavio Sellitti. Vorläufig kann ich mich nicht intensiver an diesen Suchbewegungen beteiligen, natürlich nicht, ich habe (wie schon gesagt) von den Romanen noch keine Zeile gelesen. Stattdessen habe ich mir aber einen anderen Weg zu diesem zentralen Betriebsgesprächsthema ausgedacht.

Wie wäre es, mit der Lektüre von Ferrantes Debütroman (Lästige Liebe) zu beginnen, der 1994 ins Deutsche übersetzt wurde und kaum Leser fand? Wie wäre es, diesen kaum betretenen Pfad zu begehen, anstatt den nahe liegenden Wegen zu folgen? Die erste deutsche Übersetzung von Lästige Liebe ist allerdings nicht mehr im Handel, Suhrkamp wird den Roman in neuer Übersetzung jedoch bald veröffentlichen. Soll ich so lange warten? Ältere Ausgaben von Lästige Liebe werden (etwa bei Amazon) für um die 100 Euro gehandelt – das ist nichts anderes als unverschämt. Was also bleibet? Die Fernleihe! Ja, ich habe, um nicht länger zu zögern, den Roman Lästige Liebe unverzüglich, sofort, über die Fernleihe einer großen Bibliothek bestellt. In wenigen Tagen werde ich das Buch in Händen halten. Sollte das Ferrante-Fever auch mich infizieren, werde ich wohl bald für die Lektüre sämtlicher Ferrante-Bücher abtauchen müssen. Wie wäre es mit Neapel?