Robert Walsers Winter

„Es gibt in Robert Walsers Schreiben eine dunkle Lust, die Welt als eine ‚Welt von Schnee‘ zu begreifen, ja, die Welt in toto „zu Schnee“ zu erklären. Diese Lust ist einer der heimlichen Fluchtpunkte, denen Walsers Werk folgt…“, heißt es im Nachwort zu der Walser-Anthologie Tiefer Winter. Geschichten von der Weihnacht und vom Schneien (hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Margit Gigerl, Livia Knüsel und Reto Sorg), die als schmales Insel-Taschenbuch erschienen ist.

Man kann es bei winterlichen Spaziergängen gut mitführen, um darin hier und da ein paar Seiten zu lesen: Gedichte, Geschichten und Prosastücke von Schneelandschaften, Wintersonne (wie heute!) und Weihnachtlichem.

Das Schöne an solchen Geschichten ist, dass sie die Schneewelten nicht mit Bedeutung aufladen, sondern sie Schneewelten sein lassen. Sie wirken wie hingetupft und durchspaziert, luftig und detailreich zu erkennen, mit weiten Himmelchen. Walser schreibt, als dächte er ununterbrochen darüber nach, seine Sätze zumindest zur Hälfte gleich wieder zurückzunehmen, aber dann geht er doch weiter und weiter, bis sich seine Spuren durch die Schneezonen gegraben haben.

 

Till Brönners Christmas

Nur noch wenige Tage bis Weihnachten – die festlichen Melodien kommen näher und setzen sich in unseren Räumen fest, zögerlich noch, aber immer bestimmter.

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs

wünsche ich, verbunden mit Till Brönners neuem Album Christmas, das er zusammen mit dem Pianisten Frank Chastenier und dem Bassisten Christian von Kaphengst eingespielt hat,

einen erwartungsvollen vierten Advent!

 

Geschenkbücher zu Weihnachten 3 – Japan

Wie die Leserinnen und Leser dieses Blogs wissen, interessiere ich mich seit langem für die japanische Kultur: Literatur, Kunst, Film, Fotografie, Theater – einfach alles. Nach wie vor denke ich daran, einmal nach Japan zu reisen, um meine Fantasien mit den dortigen Lebenswirklichkeiten zu konfrontieren. Wegen der Pandemie habe ich dieses Vorhaben immer wieder verschieben müssen.

Anders jedoch Christoph Peters. Er ist ein exzellenter Kenner japanischer Kultur und hat das auch in seinem Fall lang gehegte Vorhaben einer Japanreise realisiert. Dabei ist ein Buch entstanden, das ausführlich von den eigenen Erwartungen und Reflexionen erzählt und sie in vielen subtil beobachteten Szenen auf Realia von Personen, Straßen und Dingen treffen lässt. Man wird von Peters nicht belehrt, sondern geführt, man begleitet ihn, teilt seine Ideen und Fantasien und verlässt den Raum von Tokio neugierig und gespannt: Wann werde ich ihn endlich (so wie Peters) zu sehen bekommen und wie werde ich mich dort verhalten?

Christoph Peters: Tage in Tokio. Mit Zeichnungen von Matthias Beckmann. Luchterhand-Verlag

Anders als Christoph Peters ist der Schriftsteller Cees Nooteboom häufig nach Japan gereist und hat sich dort wechselnden Stationen und Themen gewidmet. Seine Japaneindrücke liegen jetzt gesammelt in einem Band vor und erlauben eine Lektüre, die ein weites Panorama eröffnet.

Cees Nooteboom: Endlose Kreise. Reisen in Japan. Mit Photographien von Simone Sassen. Übersetzt von Helga von Breuningen. Schirmer Mosel

Eines meiner Lieblingsbücher ist ein Werk des japanischen Dichters Saigyô (1118-1190). Seine Gedichte aus der Bergklause hat der Japanologe Ekkehard May nicht nur übersetzt, sondern mit vielen erhellenden Kommentaren versehen. Ohne diese Erläuterungen bleiben sie europäischen Leserinnen und Lesern kaum verständlich. Jetzt aber leuchten sie und wirken, gerade angesichts unserer Rückzugsmomente in kleine, übersichtliche und geschützte Räume, fast irritierend aktuell:

Ach, gäb´s noch einen,

der Einsamkeit genauso

ertragen könnt wie ich!

Hütten bauten wir Seit an Seit

im winterlichen Bergdorf

Saigyô: Gedichte aus der Bergklause. Sankashû. Ausgewählt und übersetzt, mit Kommentaren und Annotationen von Ekkehard May. DVB Mainz

Geschenkbücher zu Weihnachten 2 – Venedig

Venedig nur ein einziges Mal zu besuchen – das haben viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht ertragen. Viele sind immer wieder in die Lagunenstadt gereist und haben die Kulturen Venedigs stückweise zu Momenten ihrer eigenen Lebensformen gemacht. Diese Venedig-Begeisterten interessieren mich seit langem, und ich empfehle ihre Venedig-Bücher besonders nachdrücklich.

Vor kurzem erschienen sind die gesammelten Venedig-Essays von Cees Nooteboom. Verfolgen kann man anhand dieser Beispiele, wie unterschiedlich und jeweils neu Nootebooms Venedig-Emphasen verlaufen sind: Worauf hat er sich bei seinen wechselnden Aufenthalten jeweils konzenriert, mit wem war er unterwegs, wie gestaltete sich die Gefühlspalette der Eindrücke? Hier genau zu verfolgen:

Cees Nooteboom: Venedig. Der Löwe, die Stadt und das Wasser. Aus dem Niederländischen von Helga von Breuningen. Suhrkamp Verlag

Einer der herausragendsten Venedig-Liebhaber des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts war der amerikanische Schriftsteller Henry James (1843-1916), der lange in Venedig gelebt hat. Dort sind nicht nur seine glänzenden Essays und Porträts der Stadt entstanden, sondern auch Erzählungen und Romane, die in Venedig spielen.

Ich habe ihn während seiner Aufenthalte begleitet und seine Essays durch meine Kommentare und Eindrücke miteinander verbunden. Und zwar hier:

Henry James: In Venedig. Begleitet von Hanns-Josef Ortheil. (Übersetzungen von Helmut Moysich). Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung Mainz

Auch der Schriftsteller Philippe Monnier (1864-1911) war lange Zeit in Venedig unterwegs – nicht, um als Reiseschriftsteller die Stadt zu erkunden, sondern um vor Ort und in ihren Archiven nach dem zu fahnden, was man „die venezianische Mentalität“ nennen könnte. In keinem Buch ist sie besser und eleganter eingefangen als in seiner großen Erzählung von den letzten Jahrzehnten des alten Venedig. Dazu habe ich ein Nachwort geschrieben. Alles findet man hier:

Philippe Monnier: Venedig im achtzehnten Jahrhundert. Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Die Andere Bibliothek

Diese wunderbaren Venedig-Lektüren sollte man nicht ohne Steigerungen durch weitere sinnliche Genussformen erleben. Das Cicchettario der venezianischen Köchin Alessandra de Respinis ist gerade in einer neuen, stark erweiterten Auflage erschienen. Dort erfährt man die früheren Geheimrezepte der Wirtin aus dem Al Bottegon, gefeiert und erläutert von einem deutschen Schriftsteller, der sich in dieser Weinstube unzählige Male aufgehalten und dort ein ein Glas Wein, begleitet von den besten Cicchetti der Stadt, getrunken und gegessen hat. Wie man sie zu Hause nachzaubert, ist hier zu erfahren:

Alessandra de Respinis: Cicchettario. Die legendären Rezepte des Al Bottegon in Venedig. Übersetzt von Lotta Ortheil. Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung Mainz

Allein

(Am 14.12.2021 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S.4)

„Allein“, „Einzeln sein“, „Für sich sein“, „Die neue Einsamkeit“ – das sind nicht zufällig Titel von gegenwärtig viel gelesenen Sachbüchern. Sie stellen Diagnosen der Pandemie, die das Innenleben unserer Gesellschaft ausleuchten und jene sich deutlich herausbildenden Lebensformen beschreiben, die auch ich in meinem Freundeskreis beim Blick auf die verschiedensten sozialen Schichten und Altersstufen beobachten kann. In den öffentlichen Debatten treten sie meist hinter den lautstark diskutierten Themen wie Impfpflicht, Inzidenzen, Hospitalisierung zurück, weil sie eher leise und oft auch nur scheu behandelt werden.

Die regelmäßig über das Land hereinbrechenden Pandemiewellen rütteln immer von neuem und immer mächtiger an den alten, vertrauten Lebensbezügen. Sie bewirken nicht mehr nachlassende, tief sitzende Irritationen, die zum Rückzug führen. Der große Reichtum von Erlebnissen und Eindrücken schrumpft zusammen, viele Menschen bewegen sich nur noch in kleinen Kreisen, reduzieren den Umgang mit Freunden und halten sich lange Zeiten in Räumen auf, die den Charakter von Verstecken annehmen.

Das führt oft zu einer psychischen Isolation, die hinter den lustlos absolvierten täglichen Pflichten gefährlich lauert. Sie tritt nicht offen zutage, hinterlässt aber deutliche Spuren. Die immergleichen Nachrichten machen das Erzählen mundtot, sie reduzieren es auf ein Berichten und Sortieren von Meinungen zu den alles beherrschenden Daten und Fakten. Langsam zieht eine sich dadurch einstellende Stummheit in die Beziehungen ein, sie trennt Paare und Freunde und wirft die Einzelnen auf sich selbst zurück.

Manche reagieren panisch mit kurzfristigen Entscheidungen für neue Lebensformen, sie ziehen um, kündigen den Job oder suchen einen Halt bei Therapeuten der unterschiedlichsten Art. Dabei verlieren sie immer mehr das Vertrauen in die Zukunft. Geht es ganz verloren, stellen sich Depressionen ein, die das isolierte Leben noch stärker verdunkeln.

Dass lebensstimulierende Künste wie etwa Schauspiel oder Musik gegenwärtig nur noch sehr reduziert möglich sind, ist besonders fatal. In den alten Zeiten haben sie viele Begeisterungsfähige zusammengeführt, die sich zwar nicht von vornherein nahe waren, aber stets neugierig und oft geradezu hingerissen an überraschenden Darbietungen teilnahmen. Sie vermittelten Vitalität und wirkten lange nach. Ihre Blockade ist auch deshalb so katastrophal, weil sie den dringend notwendigen Sauerstoff für ein sich regenerierendes Leben lieferten.

Bald werden die versteckten Krankheitssymptome sich auch in öffentlich werdenden Zahlen niederschlagen. In England haben die Nachforschungen zu Themen wie Einsamkeit und Isolation vor einiger Zeit sogar zur Bildung eines damit beschäftigen Ministeriums geführt. Solche Warnsignale sollte die neue Regierung auch im Auge behalten. Möglich wären zum Beispiel Anstrengungen, durch die Abteilungen des Gesundheits- und Familienministeriums  im Zusammenspiel Hilfsangebote entwickeln und strukturieren. Sie müssten mit Institutionen abgestimmt werden, die in der Betreuung von psychisch gefährdeten Menschen Erfahrung haben und Lebensgeschichten zu deuten verstehen.

Karl Lauterbach sollte also nicht nur die neusten Omikron-Studien lesen und darauf reagieren, sondern sich auch an Themen wagen, deren Behandlung eine besondere, neue Art von staatlichem „Fortschritt“ markieren würde. Ihm wäre zu wünschen, dass er die bedrohlichen Szenen ernst nimmt und auch darüber spricht. Vielleicht kann er sogar eigene Erfahrungen beisteuern, das würde seinen Überlegungen besondere Dringlichkeit verleihen. Schüchterne Ansätze dazu hat er bereits vor einiger Zeit gemacht. Als Minister könnte er mutiger werden.

Geschenkbücher zu Weihnachten 1

Wie in den vergangenen Jahren empfehle ich auch diesmal Bücher zu Weihnachten. Ich beginne mit eigenen Titeln – und zwar mit meinen Momente-Büchern, in denen ich themenzentriert Ausschnitte aus meinem Gesamtwerk ausführlich eingeleitet und kommentiert zu einer Art Reigen zusammengestellt habe.

Eine solche Kompositionsform verleiht diesen Titeln etwas von Brevieren, was meint: Es sind Lesebücher, die bestimmte Aspekte eines Themas isolieren und zu Meditation und Reflexion anleiten.

Ihre Lektüre eignet sich auch gut dafür, mit den Werken eines Autors vertraut zu werden und etwas darüber zu erfahren, wie er denkt, schreibt und arbeitet.

Um einen ersten Überblick über das Gesamtwerk zu erhalten, empfehle ich: Ein Kosmos der Schrift. Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Imma Klemm. btb 2021

Und damit könnte es dann weitergehen:

Hanns-Josef Ortheil: Glücksmomente. btb

Hanns-Josef Ortheil: Musikmomente. btb

Hanns-Josef Ortheil: Glaubensmomente. btb

Hanns-Josef Ortheil: Italienische Momente. btb

Hanns-Josef Ortheil: In meinen Gärten und Wäldern. DVB

Adventliche Dialoge

Im Advent suche ich (auch) nach adventlicher Musik. Im gegenwärtig noch frühen Stadium sollten die weihnachtlichen Themen höchstens anklingen, aber noch nicht dominieren.

Sehr passend erscheint mir daher die neue CD der Blockflötistin Dorothee Oberlinger und des Gitarristen Edin Karamazov: Dialoge.

Zwei zurückhaltende Instrumente treten zum einen deutlich solistisch auf und finden andererseits zu einem präzisen dialogischen Miteinander.

Gespielt werden ausschließlich Stücke von Johann Sebastin Bach – den Anfang macht eine Bearbeitung des Chorals „Nun komm, der Heiden Heiland“ (BWV 659).

Denken Notieren Skizzieren

Hektor Haarkötters große Studie über den Notizzettel als literarisches Lebewesen erzählt von einer Form des Schreibens, die im digitalen Zeitalter keineswegs ausgestorben ist, sondern sich ganz im Gegenteil vehementer und aktiver behauptet als jemals zuvor.

Mit der Hand notieren wir auf kleinen Blättern oder Zetteln Texte, die wir vor allem an uns selbst schreiben. Sie bewahren eine Idee oder einen Gedanken auf und sind dadurch nicht zuletzt Entwürfe für ein größeres und längeres Nachdenken und Schreiben.

Viele Autorinnen und Autoren sind mit den Chancen und Praktiken dieses Notierens in den letzten Jahrhunderten auf virtuose Weise umgegangen und haben dadurch neuartige Wege des kreativen Entwerfens und Planens skizziert.

Haarkötter präsentiert sie als anregende Enthusiasten der explosiven oder meditativen Kunst, das Fragment in der Sprache so zu platzieren, dass es weitere Fragmente anzieht und sich bis ins erhoffte Unendliche vermehrt.

So erlebt man den Notizzettel als Organ des Denkens und als eine der bedeutendsten Techniken, sich über die eigenen Wege des Schreibens mit sich selbst zu verständigen.

Ein Buch für alle, die lesen, schreiben – selbständig und mit dem Anspruch, die Methoden des Denkens im Blick zu behalten und zu dokumentieren.

  • Hektor Haarkötter: Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert. S. Fischer-Verlag 2021