Gespräch mit der Fremdheit

Gestern habe ich gelesen, dass der österreichische Schriftsteller Clemens Johann Setz (geboren 1982 in Graz) den Berliner Literaturpreis erhält. Etwas in der Art habe ich in letzter Zeit kommen sehen. Seit einigen Monaten bin ich nämlich mit seinem zuletzt erschienenen Buch (Bot. Gespräch ohne Autor. Suhrkamp Verlag 2018) viel unterwegs. Ich habe es auch auf Reisen dabei und lese immer wieder einige Seiten.

Eine Idee der Lektorin Angelika Klammer liegt ihm zugrunde. Sie wollte mit Setz ein langes Interview über seine Spleens, Ideen, Vorlieben und Abneigungen führen. Dazu kam es aber nicht, denn Setz soll angeblich nicht „imstande“ gewesen sein, „auf die Fragen der Interviewerin zu antworten“ (so der Verlagstext zum Buch). Antworten konnte allerdings sein „Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch“. Angelika Klammer stellte also wie geplant ihre Fragen – die Antworten aber wählte ein Bot aus – ein Computerprogramm also, das die von Setz bereits formulierten Zeichen auswertete und mit Textausschnitten aus dem großen Tagebuchkorpus reagierte.

Das alles ist aber nicht nur eine interessante Idee, die digitale Errungenschaften in Literatur umsetzt – sondern hat auch ein Buch entstehen lassen, in dem das „Gespräch ohne Autor“ einen ordentlich durchrüttelt. Antwortet und redet man selbst nicht meist zu vernünftig, gesteuert, vorhersehbar? Bot antwortet anders: Sprunghaft, assoziativ, wie ein fremd bleibendes Wesen mit einem undurchschaubaren Gehirn, das sich aus den seltsamsten Quellen speist.

Vielleicht lese ich Bot deshalb seit einiger Zeit: Um (wenigstens manchmal) die Kurve hin zu einem Denken und Sprechen zu kriegen, das mit sich selbst nicht vertraut ist …

Literaturnobelpreis

In diesem Jahr wird der Literaturnobelpreis aus den bekannten Gründen nicht vergeben. Das ist vor allem deshalb schade, weil es ein Preis mit weniger regionalen als weltliterarischen Perspektiven ist. Im besten Fall wurden also Autorinnen und Autoren ausgezeichnet, deren Texte die geschichtlichen Erfahrungen von Bewohnern bestimmter Länder oder Sprachkontinente auf symptomatische Weise enthielten oder abbildeten.

Unter den deutschsprachigen Nobelpreisträgern seit 1945 waren das zum Beispiel Heinrich Böll und Günter Grass. Beide beschäftigten sich mit typischen Protagonisten der Nachkriegs-BRD, mit all ihren Störungen und Schäden. Eine Autorin oder ein Autor der Nachkriegs-DDR ist nie ausgezeichnet worden, was man längst für einen großen Fehler halten muss. Uwe Johnson zum Beispiel hätte diese Auszeichnung verdient gehabt, kein anderer Autor hat den deutschen Osten und die Geschichte seiner Nachkriegsjahrzehnte auf derart hohem ästhetischem Niveau porträtiert.

Nobelpreisverleihungen für Literatur haben dabei oft mit Namen überrascht, die man hierzulande kaum kannte. Erforschte man die Hintergründe, erfuhr man nicht selten viel Neues und Berührendes über weit entfernte Räume der Erde. Pablo Neruda (Chile), Gabriel García Márquez (Kolumbien), Derek Walcott (Karibik), Toni Morrison (USA), Wisława Szymborska (Polen) – sie alle haben dichtend oder erzählend ganze Welten erschlossen. Genau das ist die Aufgabe dieses Preises: Die Stimmen einer Bevölkerung und ihrer Lebenssphären zum weltweiten Klingen zu bringen.

Unterwegs mit HJO

In der von der „Deutschen Bahn“ herausgegebenen Zeitschrift „mobil“ könnte neben den neusten Aktionsgerichten der Bordrestaurants (zuletzt: „Frikadelle mit Pilzrahmsosse und Kartoffeln“) sowie vielen anderen Seltsamkeiten bald auch ein Kurzinterview mit dem Schriftsteller HJO (auf der letzten Seite) zu lesen sein. Wir veröffentlichen einen Auszug:

Wohin geht die Reise, Herr O? Ich habe mich kurz vor Semesterbeginn mit meinen Studenten an der Universität Hildesheim getroffen und fahre nun nach Köln, wo ich mir ein Konzert in der Kölner Philharmonie mit der Geigerin Isabelle Faust anhören werde. Was gibt es denn zu hören? Isabelle Faust steht allein auf der großen Bühne und spielt den ganzen Abend solo. Stücke von modernen und alten Komponisten, die kaum ein Mensch kennt. Und das mögen Sie? Ich mag es nicht nur, ich finde es fantastisch. Die Kölner Philharmonie ist einer der schönsten Konzertsäle, die ich kenne, ich gehe, sooft ich kann, hin. Und wenn in diesem wunderbaren Saal eine Geigerin ein ganzes Programm allein bestreitet, ist das eine besondere, einzigartige Sache. Ich liebe solche Solo-Auftritte sehr … Wie vertreiben Sie sich die Zeit im Zug? Ich reise ohne technisches Gerät. Kein Notebook, kein Laptop. Nur ein Notizblock und ein paar Stifte. Ich lese Bücher, Zeitschriften, Zeitungen – und ich schreibe. Nehmen Sie etwas zu sich? Ja, Teinacher Genuss-Limonade Zitrone. Die kaufe ich vor der Reise. Und was essen Sie? Minis von Ritter Sport, sonst nichts. Wo sitzen Sie meist? Im Großraumwagen, Ruhebereich. Schauen Sie auch mal raus? Und ob – immer wieder während längerer Strecken. Ich sauge die Umgebungen richtiggehend in mich hinein. Wie geht denn sowas? Ich gerate in bestimmte Stimmungen, die von den Landschaften mit ausgelöst werden. Es ist, als evozierten sie jeweils eine bestimmte Musik. Welche Musik? Es gibt unverbraucht erscheinende, lässige, weltabgewandte Landschaften, die zum Beispiel den ersten Satz der Holberg-Suite von Edvard Grieg in mir anklingen lassen (man schaue sich auf Youtube die wunderbare Aufführung durch das Camerata Nordica String Orchestra an). Sprechen auch Leser Sie an? Ja, manchmal. Leserinnen fragen, ob ich der Schriftsteller O sei, und Leser kommen oft mit einem Blatt Papier und bitten um eine Signatur. Und was sagen Sie dann? Dass ich nicht O, sondern ein naher Verwandter sei, der häufig mit ihm verwechselt werde. Und das glaubt man Ihnen? Nein, aber es entsteht meist eine sehr muntere Kommunikation, an deren Ende ich zugebe, der Schriftsteller O zu sein. Und warum geben Sie es nicht gleich zu? Die muntere Kommunikation wirkt befreiend und macht aus Fragen und Antworten jedes Mal einen interessanten Sketch. Mögen Sie Sketche? Und wie! Loriot war ihr unübertroffener Meister. Wäre es nach mir gegangen, hätte er dafür mindestens den Büchner-Preis erhalten.

Begrüßung zum Volksfest

Grüß Gott, liebe japanische Freundinnen und Freunde, bevor wir uns in das Treiben des großen Volksfestes stürzen, einige knappe Erläuterungen. Wir stehen vor einem Outlet-Stand des herbstlichen Karnevals, der Ende September beginnt. Er folgt auf den sogenannten Viehabtrieb, also den Abgang der großen Kuhherden von den hoch gelegenen Almen. Sennerinnen und Senner führen die gut genährten Tiere in die Täler und zeigen sich stolz in ihren Trachten: Dem Dirndl und der Lederhose, vererbt aus den alten Tagen, als wir noch Waldbauernmädels und Waldbauernbuben waren. Da es für unsere Sennerinnen und Senner das halbe Jahr nix Gutes und nix Reichliches zu essen und zu trinken gab, legen sie nun los. Und essen und trinken einige Wochen lang ununterbrochen. Dazu begeben sie sich in sogenannte Festzelte, aus denen jedes Entkommen unmöglich ist. Sie sitzen und schwitzen und kippen ein Maß nach der andern. Wer sich zu ihnen gesellt, wird vereinnahmt, liebe japanische Freundinnen und Freunde, die Zelte machen alle Besucher almhüttengleich – bis die Köpfe und Hirne endgültig vollkommen leer sind. Entleeren Sie sich also und vergessen Sie alles Davor und Danach. Sie werden Momente der Abwesenheit erleben, die sie sich nicht einmal im Traum vorzustellen wagten. Die Einheimischen nennen sie „Gaudi“.

Charles Aznavour ist gestorben

Charles Aznavour ist im Alter von 94 Jahren gestorben. 2013 gab er im Pariser Olympia noch ein denkwürdiges Konzert (das man in Ausschnitten über Youtube verfolgen kann).

Einer der berührendsten Momente ist der, als er sein großes Publikum dazu auffordert, das Chanson La Mer mit ihm zu singen. La Mer ist von Charles Trenet, der es vor vielen Jahrzehnten (noch während des Zweiten Weltkriegs) geschrieben hat. Längst ist es zu einem der bekanntesten und beliebtesten französischen Chansons geworden, jedes Kind kennt es.

Aznavour geht also auf der kleinen Bühne auf und ab und schlägt vor, La Mer gemeinsam zu singen. Gemeinsam zu singen, das sei eine besondere Freude, das sei Wärme und Liebe. Und dann stimmt er La Mer an und nimmt seine Stimme zurück, als er hört, dass alle sofort einstimmen und mitsingen und das Chanson sich wie eine kleine Woge entwickelt, anrollend und auslaufend – und erneut anrollend und auslaufend. Er ist völlig betört von dem gemeinsamen Singen, und er lässt sich auf der Bühne treiben und setzt ab und zu ein paar hingehauchte, leise Töne auf die Spitzen der Woge – und so wird er zu dem, was er eigentlich sein will: ein Medium des Liedes, ein Teil seines meeresfreundlichen Murmelns – bis dieses Murmeln verebbt und sich langsam ausblendet, ganz wie das Meer, ganz wie von selbst …

Zoobesuch

Seit vielen Jahren einmal wieder im Zoo. Was für seltsame Begegnungen! Fast alle Tiere nehmen einen in ihren Gehegen nicht wahr, sondern führen ein merkwürdig introvertiertes Dasein.

Der Marabu (einer meiner Lieblinge) steht stundenlang wie ein verbitterter Greis im Nichts und bringt es nicht einmal zu einem winzigen Zucken. Die Erdmännchen liegen auf dem Rücken unter hellen Strahlern und tun so, als wären sie im Urlaub am Meer. Das Panzernashorn verlässt seine Tiefbadewanne keinen Moment, sondern suhlt sich schnaubend im Wasser. Nirgendwo eine Reaktion! Löwen, Tiger und Geparde haben nichts anderes als das mittäglich angebotene Fressen im Sinn und gönnen sich nach Verzehr eine unverschämt lange Siesta. Und die königlichen Riesenschlangen bewegen sich den lieben langen Tag gar nicht, sondern verdauen ausschließlich.

Da ist es eine Freude, einer hellwachen Ausnahme zu begegnen! Als ich ihn anschaue, rudert er beflissen heran, stellt die Brillenlinsen scharf, schaut zu mir hoch, meldet die Wassertemperatur, gleitet elegant davon, dreht eine Runde und kommt zu mir zurück, um den Blickkontakt zu erneuern. Hingerissen habe ich eine Patenschaft übernommen und versprochen, seinetwegen ab sofort regelmäßig zu kommen.

Japanische Küche

Seit einigen Jahren gibt es immer mehr japanische Restaurants in unseren Städten. Sie bedienen eine Neigung zum Einfachen, Klaren, Essentiellen, die in unseren europäischen, meist an der französischen Küche orientierten Menus verloren gegangen ist. Diese widmen jeder Zutat, sei es Fisch, Fleisch oder Gemüse eine aufwendige Verwandlung und kombinieren sie mit lange und raffiniert hergestellten Saucen. In der japanischen Küche ist die Folge der einzelnen Gänge jedoch kein Zelebrieren besonderer Fantasien und Erfindungen. Stattdessen geht es um die intensive Wahrnehmung der Zutaten selbst, um so etwas wie ihr Leuchten, ihre Gegenwart, ihr Aufgehen im möglichst puren Schmecken.

Darüber hat der Koch und Philosoph Malte Härtig ein aufschlussreiches Buch geschrieben (Kaiseki. Die Weisheit der japanischen Küche. mairisch Verlag 2018), in dem er uns während eines solchen Menus von Gang zu Gang begleitet. „Kaiseki“ ist ein Begriff für die Feinheiten der japanischen Hochküche, die der Autor vor allem in Kyoto kennengelernt und studiert hat. Ihre Künste leitet er von Traditionen der altjapanischen Teezeremonien her, die vom Zen-Buddhismus geprägt sind.

Serviert werden die Gerichte nicht auf Tellern, sondern in kleinen Schalen, die ein Gericht eben nicht „ausbreiten“ oder „lagern“, sondern eher (wie eine hohle Hand) „bergen“. In jeder Schale befindet sich eine Zusammenstellung von konzentrierten, sichtbar gemachten Zutaten, deren Eigengeschmack gesteigert erscheint. Solche Kompositionen bleiben minimal, denn sie dienen der Kultivierung des Geschmacks, nicht aber der Sättigung. Man isst sie langsam und achtet auf ihren Bezug zu Umgebung, Raum, Jahreszeit. So sind sie als „Anspielungen“ zu verstehen, die eine „Essensszene“ figurieren.

Danach wird einfacher Reis angeboten – dieser nun wiederum (wenn man mag) zur Sättigung, bis alles auf eine Schale Matcha-Tee zuläuft, der etwas Süßes vorausgeht. „Ein solches Essen“, schreibt Malte Härtig, „gibt Einblick in das Wesen der Dinge. Diese erzählen in ihrer Einfachheit, was sie sind und wie sie zu dem geworden sind, was sie sind. Sie berichten von ihrem Potenzial und ihrem Sein. Sie erzählen von ihrem eigenen Leben – und vom Leben selbst. Von da ist der Schritt zum eigenen Leben nicht weit.“

Der Kuss

In Mainz wurde unterhalb der heutigen Römer-Passage mitten in der Innenstadt die Statuette eines küssenden römischen Paares (aus dem ersten Jahrhundert nach Christus) gefunden. Vor ein paar Tagen habe ich sie zum ersten Mal gesehen – und war überrascht. Ich sammle kleine Statuetten römischer Figuren und besitze einige, die wie eine verschworene Gemeinschaft bei mir zuhause an einem besonderen Platz stehen und mich an meine Lateinlektüren erinnern. All diese Statuetten sind aber Einzelfiguren, ein küssendes Paar hatte ich noch nie gesehen.

Das Schöne daran ist, dass die Gestalten von Mann und Frau wie zu einem engen Block zusammengeschmolzen sind. Nicht zwei verschiedene Körper lehnen sich einander an oder „tauschen“ einen Kuss, die Körper sind vielmehr ähnlich (mit Übermantel) gekleidet und verschwinden unter diesen Bekleidungen. Die Armgeste der Frau verbindet beide Figuren, der Arm des Mannes ist nicht erkennbar, nur die Hand ist zu sehen.

Die Ähnlichkeit der beiden Paargestalten ist sogar so groß, dass man nur schwer entscheiden kann, ob es sich hier überhaupt um Mann und Frau handelt. Der Frage kommt man näher, wenn man die Statuette umdreht: Dann erkennt man einen weiblichen Haarknoten und das kurz geschorene Haar des Mannes.

Der Kuss besiegelt eine Nähe, eine Zusammengehörigkeit. Es ist kein fordernder, forschender, erotischer, sondern der Kuss eines Paares, das sich gut kennt und vertraut.

Als ich die beiden Vertrauten so anschaute, erinnerte ich mich unwillkürlich an die neugierigeren, explosiven Küsse, auf die eine bildnerische Moderne spätestens seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts setzt (Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan. Katalog zur Ausstellung im Bröhan Museum, Berlin 2017). Man sollte beide Formen nicht vernachlässigen, dachte ich und stellte eine Kopie der kleinen Statuette in meine Sammlung.

Federweißer

Die spätsommerlichen, noch relativ hohen Temperaturen am Tag, die Kühle am Abend und in der Nacht – auf ideale Weise gehören diese Kontraste zum Getränk dieser Tage: Federweißer. Überall, wo Wein angebaut wird, trinkt man ihn jetzt, und die Winzerinnen und Winzer, die mit ihm umgehen können, servieren ihn nicht in feudalen, geschmückten Gläsern, sondern in den einfachsten Trinkgläsern überhaupt.

Denn: Federweißer ist kein eigenständiges Getränk, sondern junger Wein (Most) auf dem Weg dazu, richtiger Wein zu werden. Ein Novize also, ein Getränk des Übergangs – und deshalb ein Getränk der Verheißung.

Ins schlichte Glas leuchtet die Sonne und zeigt seine leichte Trübung, die durch die frei in ihm schwebenden Hefestoffe entsteht. Trinkt man keine süßen, sondern die herben Versionen (und nur das sollte man tun), spürt man sein verhaltenes Schäumen und Gären auf der Zunge. Zwiebelkuchen (mit etwas Speck) gibt es dazu, aber der Kuchen sollte flach sein, eine Tarte (und keine bullige, schwere Front aus lauter Zwiebelstockwerken).

Jetzt ist genau die richtige Zeit, zwei oder drei Gläser zu kosten. Der Herbst steckt bereits darin und damit das Versprechen von Reife. 2018 wird ein fantastisches Weinjahr werden – das hören wir nicht nur immer wieder, sondern wir schmecken es jetzt, im Voraus …

Das Lesetagebuch 2

Auf meinen Blogeintrag zum „Lesetagebuch“ habe ich viele Rückmeldungen erhalten. Erstaunt hat mich, wie bescheiden die Leserinnen und Leser ihre Rolle noch immer auslegen. Sie verstehen sich (wie in den alten Zeiten) als vorsichtig vorgehende Interpreten und Deuter, die sich den Vorgaben eines fremden Textes dienend widmen. Manche wagen es nicht einmal, in einem Buch etwas anzustreichen, geschweige denn, etwas hinein zu schreiben.

Einen so verhaltenen Umgang mit einem Text hatte Wolf Wondratschek in seinem Interview nicht vor Augen. Er zitierte Borges mit dem Satz, der Leser sei der eigentliche Schöpfer. Seine Aufgabe sei das exzessive Verstehen und Ausdeuten – und das in einem erheblichen Maß, besser als der Autor selbst es könne.

Radikalisiert man diesen Gedanken, so begegnet man einem Leser, der den Text eines Autors aufgreift und in Gedanken mit- und neu schreibt. Ginge es nach mir, würde ich den Deutschunterricht an unseren Schulen (der sowieso in allen Klassen um das „Kreative Schreiben“ erweitert werden müsste) durch Techniken eines solchen „Umschreibens“ bereichern. Lesen ohne Schreiben sollte es niemals geben. Das Schreiben ist die Praxis eines Lesens, das einen Fremdtext in sich aufnimmt und weiterspinnt.

(Ich empfehle dazu die Bücher von Alberto Manguel: Die verborgene Bibliothek/ Die Bibliothek bei Nacht/ A reading diary/ Eine Geschichte des Lesens)