Die Lesung im TAL – ein Rückblick

Die Lesungen dieses Jahres überbieten sich darin, die typischen, althergebrachten Strukturen von Lesungen zu überwinden und mit neuen Konzepten aufzuwarten.

So war die Lesung im TAL (Hasselbach/Ww.) am letzten Samstag eine Kombination aus Spaziergang (durch das Kunstgelände des TALs) und Lesung aus den Kunstmomenten, mit der besonderen Pointe, dass sie mit Texten über eine Skulptur des TAL-Gründers Erwin Wortelkamp und eine Skizze über die Entstehung des TALs ausklang.

Viele Leserinnen und Leser waren zum Teil von weither gekommen und erlebten den Nachmittag, den Abend und die anbrechende Nacht als eine „runde, stimmige Sache“, wie ich mehrmals zu hören bekam. Das freut mich!

Die Lesung selbst bot dabei eine weitere Gelegenheit, genauer zu erläutern, was ich unter Kunstmomenten verstehe. Denn es handelt sich in diesem Buch keineswegs um eine Folge beliebiger Kunst-Beschreibungen, sondern um eine biografische Reihung bestimmter Momente, in denen Kunst manchmal, aber nicht immer die Funktion eines auslösenden Erlebnisfaktors spielt.

Kunstmomente, wie ich sie nenne, entstehen zunächst durch die Wahrnehmung eines Faszinosums in der Umgebung (Außenwelt), die sich als ein Bilderlebnis (geformt, strukturiert) ereignet. Ein solches Erlebnis drängt in einem zweiten Schritt danach, festgehalten und als „inneres Bild“ aufbewahrt zu werden. Das kann durch eine Intensivierung des Blicks (mit Hilfe eines Fernglases, einer Fotokamera etc.) geschehen. Der auf diese Weise gespeicherte Bildzusammenhang löst in einem dritten Schritt eine Bearbeitung durch einen Text aus, der auf die Besonderheiten des jeweilen Bildblicks reagiert.

Kunstmomente lassen viele dieser Blickkompositionen Revue passieren: 1) Den Kindheitsblick durch ein Fernglas, 2) Den fotografischen Blick auf ein Fotoalbum, 3) Den Museumsblick, 4) Den Filmblick, 5) Die Blickzusammenhänge in christlichen Kirchen, 6) Die Blickzusammenhänge in städtischen Räumen (wie Rom oder Venedig), 7) Die Blickzusammenhänge in Griechenland (im Blick auf antike Skulpturen und Tempel), 8) Die Blickzusammenhänge in Paris (als Blicke auf Pariser Boulevards, Straßen und Ateliers) – bis das Buch langsam in der Gegenwart (im TAL, aber auch in Mainz, im Atelier einer dort lebenden Künstlerin) ankommt – und nach dem Ausgangsort der Bildwanderung (nach Köln) zurückkehrt.

In diesem Sinne sind die Kunstmomente eine „visuelle Autobiografie“: Autobiografisches Material wird gesehen, gedeutet und analysiert, wodurch eine autofiktionale Erzählung entsteht. Es ist, wie so oft in meinen Büchern: Ich sehe und betrachte mich „als einen Fall“, ich untersuche ihn, und zwar so, dass die Leserin oder der Leser leitend aufgefordert werden, sich selbst ebenfalls „als Fall“ zu verstehen – und, im Idealfall, ebenfalls darüber zu schreiben.

(Das Foto zeigt den Künstler und TAL-Gründer Erwin Wortelkamp am letzten Samstag im Gespräch mit dem Schriftsteller O)

Ein Sommernachtstraum (Blogeintrag 1600!)

Der Sommer ist da! Im Laufe des Tages sollen 30 Grad gemessen werden! Umso größer ist die Vorfreude auf meine heutige Lesung (19 Uhr, im TAL – Hasselbach/Westerwald).

Es werden viele Leserinnen und Leser aus allen Landen erwartet, die vor der Lesung ab 16 Uhr zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Kim Wortelkamp durch das große Kunstgelände gehen werden! Sommernachtsstimmung!

Allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wünsche ich, verbunden mit der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy, ein entspanntes Wochenende!

Carmen und Rita reisen nach Köln

(Zwei Leserinnen aus Vorarlberg in Österreich haben mir eine freundliche Mail geschickt, ich habe ihnen geantwortet und stelle die Antwort in diesen Blog, um auch andere Leserinnen und Leser zu diesem Spaziergang durch Köln einzuladen, an dessen Ende ein Buchgeschenk auf  jede/jeden wartet.)

Liebe Carmen, liebe Rita, vielen Dank für Eure freundliche und anregende Mail! Ihr nennt Euch Köln-Freundinnen und fahrt dann und wann in meine Heimat- und Geburtsstadt, weil Ihr Köln mögt und gerne dort umherstreift. Das freut mich natürlich sehr!

Neulich seid Ihr sogar nach Köln-Nippes gefahren und habt Euch dort auf den Spuren des Kölner Schriftstellers O umgesehen. Ihr habt den schön gelegenen Erzbergerplatz entdeckt, wo er als Kind lange lebte, und Ihr habt Reisen in der Fantasie gemacht, indem Ihr den realen Platz mit Szenen seiner Bücher verbunden habt.

Von Euren Recherchen erholt habt Ihr Euch in einem Weinlokal am Schillplatz. Ich gebe zu, auch gerne Wein zu trinken, aber in Köln ist das so eine Sache. Empfehlen möchte ich Euch, in den Golde Kappes auf der Neusser Straße zu gehen und Euch dort in die Schwemme (vorne am Eingang) zu setzen. Dort solltet Ihr ein, zwei, drei Kölsch bestellen, trinken und weiter fantasieren. Dabei hilft das Buch Ein Kosmos der Schrift, in dem ich von meinen Besuchen als Kind in diesem fast unveränderten Brauhaus und von dem, was ich dort einmal gegessen, gehört und getan habe, erzähle.

In der Schillstraße gibt es auch noch das kleine Büdchen, in dem ich früher mit dem Vater Zeitungen und Zeitschriften kaufte, um daraus Bilder auszuschneiden und auf Kartons zu kleben (einen Text über das Büdchen findet Ihr in dem typisch kölschen Buch Von Büdchen zu Büdchen, S. 112)

Direkt neben dem Büdchen (der heutige Besitzer ist ein sehr freundlicher Mann) findet Ihr Genusswerte (Schillstr. 11) , einen Feinkostladen. Geht doch einmal hinein und kauft das wunderbar frische Brot, nirgendwo in Köln gibt es besseres (und es gibt sehr gutes Brot in Köln, fast an jeder Ecke, besonders in den Filialen von Merzenich). Es gibt auch vorzüglichen und sogar preiswerten Wein!

Danach könnt Ihr mit der U-Bahn von der Haltestelle Florastraße aus zum Hauptbahnhof (Breslauer Platz heißt die Station) fahren. Um die Ecke geht es in die Marzellenstraße 68-70 zu meinem italienischen Lieblingsrestaurant Luciano, einem der ältesten italienischen in Köln. Die Kellner stehen schon vor der Tür und warten auf Euch. Wenn Ihr eine Kleinigkeit bestellt und esst, würdigen sie Euren Köln-Gang mit einem meiner Bücher (über Venedig oder Rom, handsigniert!). Mein Köln-Geschenk!

Ihr habt vorgeschlagen, dass ich einmal in einem Raum ganz in der Nähe des Erzbergerplatzes lesen sollte, das habe ich früher bereits mehrmals getan (meist in der Kulturkirche, die sich auch in Nippes befindet). Aktuell ist keine weitere Lesung vorgesehen, im nächsten Jahr wird es aber bestimmt dazu kommen. Ich werde sie in meinem Blog ankündigen, vielleicht habt Ihr Zeit, dann lade ich Euch zu einem gemeinsamen Kölsch ein – und Ihr erzählt mir von Eurer Vorarlberger Heimat, nachdem ich Euch in meinen Büchern bereits so viel von meiner eigenen erzählt habe.

Einverstanden? Versprochen! Ganz herzliche Grüße von Hanns-Josef Ortheil

Nackte Nachrichten

(Am 16.08.2023 auch als Kolumne im „Kölner Stadt-Anzeiger“, S. 4)

Meine Freunde entwickeln in letzter Zeit einen zunehmenden Widerwillen gegenüber bestimmten Nachrichten. Vor allem solche über den Zustand der Ampel-Koalition nerven stark. Sie kommen ihnen vor wie Folgen einer trashigen Serie, die jeweils andere Protagonisten für kurze Zeit in den Vordergrund rückt und sich abmüht, Interesse für sie zu wecken. Heute Frau Baerbock, morgen Herr Lauterbach, dann wieder Herr Lindner, nur an Olaf Scholz tropfen diese zähen Bemühungen ab, weil er sich schon seit langem dafür entschieden hat, nicht interessant sein zu wollen.

Es geht aber um Grundsätzlicheres, denn schon früher habe ich mich oft gefragt, welche Nachrichten meine Freunde bewusst aufnehmen, durchdenken oder gleich wieder im Kleinhirn verschwinden lassen. Momentan verbringen sie noch ein wenig tägliche Zeit damit, Meldungen aller Art aufzuschnappen, zu überfliegen oder sogar zu lesen. Ob sich das lohnt, fragen sie sich jedoch immer kritischer: Von wo kommen sie, gehen sie einen wirklich etwas an oder täuschen sie Wichtigkeit vor, um uns bei der Stange zu halten?

Der Philosoph Walter Benjamin hat in einem Essay über das Erzählen den Verleger Hippolyte de Villemessant zitiert: „Meinen Lesern … ist ein Dachstuhlbrand im Quartier Latin wichtiger als eine Revolution in Madrid.“ Solchen Lesern kam es also vor allem auf Informationen an, die sie direkt mit ihren Lebensverhältnissen zu verbinden wussten. Die Informationen konnten alarmierend sein, und sie wirkten kurzfristig wie Signale, um bald danach zu verpuffen.

Anders dagegen die Erzählung. Sie prägt sich dem Gedächtnis ein, bleibt dort gespeichert und wird, wenn sie von Mund zu Mund wandert, um benachbarte Erzählungen erweitert und angereichert. Dafür braucht es jedoch Erzählerinnen und Erzähler, die sich Zeit nehmen. Benjamin glaubte, dass gutes Erzählen aus der eigenen oder berichteten Erfahrung komme. Erreiche es das Publikum wirklich, werde es wiederum zu dessen Erfahrung.

Unserer TV-Sender haben sich diese Erkenntnis zu eigen gemacht und schicken Reporterinnen und Reporter an die Nachrichtenorte. Da stehen sie dann in der Dunkelheit oder bei Wind und Wetter vor den Toren der Katastrophengebiete und versuchen, davon zu berichten, worum es sich handelt und was gerade los ist. Solche Berichte erreichen uns jedoch ebenfalls kaum, weil auch sie wie Informationen wirken und nicht die Kraft von Erzählungen haben. Auf X (ehedem Twitter), TikTok und anderen Social-Media-Kanälen nehmen sich unterdessen Scharen von Nutzerinnen und Nutzern der herumflatternden Meldungen an und versuchen, sie aus eigener Perspektive zu teilen.

Das jedoch hilft langfristig auch nicht weiter, weil sie ebenfalls im nackten Nachrichtenmodus verbleiben und kein weiteres Fleisch ansetzen. Es ist wie verhext. Noch nie stürzten täglich so viele Informationen wie jetzt auf uns ein, und noch nie waren wir derart unfähig, mit ihnen umzugehen und sie wirklich mit unserem Leben zu verbinden. Beinahe rührend wirken da schon die Momente, in denen die Nachrichtensprecher sich nach Personen umschauen, die eine „Einordnung“ vornehmen. Dann müssen Shakuntala Banerjee oder Theo Koll ran und die Welt in zwei Minuten möglichst lebensnah sortieren.

Letztlich spricht auch das mehr denn je für das analoge Erzählen. In älteren Zeiten saß man mit seinen Freunden, Bekannten oder Nachbarn einige Zeit zusammen und hörte zu, wie sie sich einen Erzählpfad durch das Lebensdickicht bahnten. Solche Erzählungen blieben haften, und sie machten einen großen Teil der Bedeutung und Schönheit des Lebens aus. „Erzähl mal!“ lautete das Signal, und es brauchte nicht unbedingt einen Dachstuhlbrand, um unser Interesse zu fesseln. Ein Spaziergang zu zweit in unbekanntes Terrain reichte oft schon als Thema, Hauptsache, wir hatten etwas Nahes intensiver gespürt und gesehen als Ampeln in jedweder Form.

Der Filmblick

 

In meinem Buch Kunstmomente geht es nicht um die simple Beschreibung oder Deutung von Kunstwerken, sondern um eine Philosophie der Blicke, die ein Gegenüber als Kunst erkennen und begreifen. Erzählt wird anhand dieser Leitidee eine Autobiografie des Kunstverhaltens, von der frühen Kindheit bis in die Gegenwart. Daher kann man (verkürzt) von einer visuellen Autobiografie sprechen.

Ein Kapitel gilt dabei auch dem Filmblick. Ist er einmal „installiert“, kann man ihn natürlich auch trainieren. Das tut auf ideale Weise der nordirische, in Edinburgh lebende Filmregisseur Mark Cousins in seiner 15-teiligen Dokumentation The Story of Film. An Odyssey, die mit den Frühzeiten des Films beginnt und anhand klug ausgewählter Sequenzen (aus aller Welt) zeigt, wie sich die unterschiedlichen Genres entwickelt und beeinflusst haben.

2021 hat diese Dokumentation die Filmfestspiele in Cannes eröffnet, jetzt sind alle Teile über Anbieter im Netz abrufbar:

https://www.arthaus.de/the_story_of_film!

Jede Folge dauert ca. eine Stunde, und eine jede lohnt sich (was man von Serien sonst wahrhaftig nicht behaupten kann…).

Die Lesung im TAL

Am nächsten Samstag, 19.8.2023, werde ich um 19 Uhr im TAL lesen! Hier noch einmal die Einladung zu TAL-Gang und Lesung! Ich freue mich über ein zahlreiches Erscheinen, denn es wird vorerst die letzte Lesung aus den „Kunstmomenten“ sein (heute kann man sich noch anmelden…)

19. August 2023 | Talgang und Lesung

Dazu passen Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der genialen Interpretation von Khatia Buniatishvili. 

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs ein kunstvolles Wochenende!

Inspirationsmittel beim Schreiben

Vor einiger Zeit haben die Herausgeber Christoph Markschies und Ernst Osterkamp über vierzig Autorinnen und Autoren eingeladen, von ihren Inspirationsmitteln beim Schreiben zu erzählen.

Herausgekommen ist dabei eine interessante Rundreise in Buchform (Vademekum der Inspirationsmittel – Wallstein Verlag). Schaut man sich die kurzen, meist nur wenige Seiten langen Texte genauer an, kann man ihre Perspektiven nach den Ausgangssituationen unterscheiden.

Einige beginnen beim Nullzustand, dann helfen Inspirationsmittel, schlicht gesagt, „in Gang zu kommen“. Die typischen Hilfsmittel (Kaffee, Tee etc.) werden getrunken, stärkere Drogen (Alkohol, Amphetamine, LSD etc.) aber weitgehend ausgeblendet.

Andere Inspirationsmittel kommen zum Einsatz, wenn eine Phase erster, starker Konzentration gelöst oder gelockert werden soll. Dann bleiben die vorhandenen Gedanken und Ideen im Kopf, werden aber „ausgeführt“ und im Kontakt mit Umgebungen „erleichtert und neu aufgeladen“ (z.B. durch Gehen, Duschen, Kochen, Schneeschaufeln, Waldlauf, Zug fahren).

Wiederum andere Mittel sind geeignet, lange Phasen des geduldigen Arbeitens zu begleiten und „in Gang zu halten“ (Bleistiftspitzen, Mandelhörnchen, Standuhr).

Julian Nida-Rümelin verwendet ein altes, noch analoges Diktiergerät als Inspirationsmittel. Für ihn ist es das richtige „Gegenüber“, dem er die ersten Varianten seines Nachdenkens erzählt. Sie bleiben gespeichert und bereiten, vom Schreibtisch entfernt, in freier Wildbahn benutzt,  die weitere Verarbeitung vor.

Besonders gefallen hat mir der Beitrag von Siegfried Zielinski, der von „japanischer Brühe“ berichtet:  Jede japanische Brühe in der leichten Variante (Ichi-ban-Dashi) spielt einen seltsamen und Fremden kaum verständlichen Schwebezustand durch: In einer nahezu klaren, sehr leichten Flüssigkeit, die in Geschmack und Duft mit Meeressubstanzen wie zum Beispiel Norin oder Kombu (Variationen von Algenblättern) angereichert ist, schwimmen majestätisch wenige dünne Streifen einer Frühlingszwiebel, ein Sträußchen Kresse, einige feine Streifen frischen Ingwers, zwei dünne, zu Blüten geformte Scheiben eines weißen Rettichs, ein Garnelenschwanz vielleicht noch. Alles ist zuvor mit äußerster Behutsamkeit behandelt, in den Farben sorgfältig ausgewählt: hellgrün, dunkelgrün, weiß, rosa – im Volumen nicht mehr als das Angedeutete, eher weniger…Eine vollendete Ästhetik der Balance im Alltäglichen.“ (S. 68/69)

 Genau an solche Orgien im Kleinen, Alltäglichen erinnere ich mich gut. Sie vertrugen sich auf ideale Weise mit vorausgegangenen körperlichen Anstrengungen (Laufen, Schwimmen, Fahrrad fahren) und brachten die dort aufgewendeten Energien „zum Schweben“, durch allmähliche, langsame Rückkehr zu den einfachsten Dingen.

Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser dieses Blogs, auch mit bestimmten Inspirationsmitteln vertraut sein, würde ich mich über einen kurzen Text freuen. Bitte an: ortheil.hannsjosef@gmail.com

Das Urteil im Prozess am Landgericht in Koblenz

Über den Strafprozess am Landgericht in Koblenz wegen schwerer Brandstiftung in der katholischen Kirche Kreuzerhöhung meines westerwäldischen Heimatortes Wissen/Sieg habe ich in diesem Blog mehrfach berichtet. Am Montag (7.8.2023) ist dort nun das Urteil gesprochen worden.

Der 39jährige Angeklagte wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Außerdem wurde die Unterbringung in einer Entzugsanstalt für eine Mindestdauer von 18 Monaten angeordnet. Verläuft die angeordnete Suchttherapie erfolgreich, kann die Hälfte der Strafe erlassen werden.

Der Urteilsverkündung und den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigerin war die Verlesung des forensisch-psychiatrischen Gutachtens durch einen Psychiater vorausgegangen. In der internen Befragung soll der Angeklagte davon berichtet haben, in der Kindheit von der Mutter oft geschlagen worden zu sein und eine besondere Wut auf sie entwickelt zu haben. Solche starken Emotionen wurden durch das Trinken großer Mengen Alkohol und die zusätzliche Einnahme von Drogen gesteigert und führten mehrmals zu Selbstmordversuchen.

Warum es in der Tatnacht zu der schweren Brandstiftung ausgerechnet in der katholischen Kirche gekommen war, konnte der Gutachter jedoch nicht erklären. Er hielt sich an die Aussage des Angeklagten, sich an die Tat nicht erinnern zu können und ging den Umständen und möglichen Motiven nicht weiter nach. Während die Staatsanwaltschaft von einer zielgerichteten Tat mit Verdeckungsabsicht sprach, beließ es der Gutachter bei Vermutungen und kam über die magere Küchenpsychologie einer schweren Kindheit als zentralem Motiv für die Tat nicht hinaus.

So blieben nach der Urteilsverkündigung die wichtigsten Fragen unbeantwortet: Warum bewegte sich der Angeklagte in der Tatnacht zielgerichtet auf die katholische Kirche zu? Hatte er sie in früheren Zeiten einmal oder mehrfach aufgesucht? Kannte er die baulichen Verhältnisse gut, so dass es ihm leicht möglich war, ohne große Behinderung durch den Notausgang in das Gotteshaus einzubrechen? Wusste er, wie die Alarmanlage funktionierte und hatte er Erfahrung im Ausschalten der Anlage?

Und zuletzt: Warum kam das Gericht nicht auf die Idee, den Angeklagten in die zerstörte Kirche zu führen und vor Ort über seine Kenntnisse des Raumes und des umgebenden Geländes zu befragen?

Beim Rückblick auf diesen Prozess bleibt eine starke Unruhe bestehen. Sie rührt daher, dass man es sich mit der Untersuchung des Tathergangs und besonders mit der Untersuchung der Tatmotive viel zu leicht gemacht hat. So ist nicht auszuschließen, dass es zu einer ähnlich gelagerten Wiederholungstat kommt.

Im schlimmsten Fall nach erfolgter Therapie und der Hälfte der jetzt verkündeten Haftstrafe. Dann könnte die katholische Kirche Kreuzerhöhung gerade wieder restauriert sein. Skandalöse Aussichten!

Martin Walser ist am 26. Juli 2023 gestorben

Ich bin Martin Walser nie begegnet, und ich kann mich auch nicht an eine einzige Lesung erinnern, die ich als Zuhörer erlebt hätte. Seltsam. Seine Bücher habe ich, wie soll ich sagen, „zur Kenntnis genommen“, aber meist nicht gelesen.

Wenn ich jetzt, nach seinem Tod, darüber nachdenke, glaube ich, dass er mir als Schriftsteller mit seinen Figuren, Themen und Debattenbeiträgen sehr fremd war. Ich witterte auch ein stark schwäbisch und alemannisch gefärbtes Temperament, was, seit ich in Stuttgart wohnte, nicht eben hilfreich hinzukam.

Am nächsten war er mir in einem Film von Frank Hertweck und Denis Scheck aus Anlass seines neunzigsten Geburtstags (Mein Diesseits – Unterwegs mit Martin Walser – siehe Blogeintrag vom 19. März 2017).

Mit verhaltener Begeisterung habe ich vor allem seine drei Meßmer-Bücher (Meßmers Gedanken/1985, Meßmers Reisen/2003, Meßmers Momente/2013) gelesen, in denen er dem Zwang zur großen Erzählform entkommen war und sich in kurzen Aufzeichnungen porträtiert und aus der Nähe gemustert hatte.

Diese unverkennbar autobiografischen Skizzen habe ich auch jetzt wieder gelesen – und mich laufend gefragt, ob ich ihm nicht doch gerne einmal begegnet wäre, in seinem Haus am Bodensee zum Beispiel, von dem jetzt viele Bekannte erzählen, nicht ohne den Streuselkuchen Käthe Walsers zu erwähnen, den es bei diesen Anlässen für die Gäste meist gab.

Solche Erzählungen haben mich wachgerüttelt, und ich würde mir wünschen, dass Walser über diese Treffen und Begegnungen geschrieben hätte – und zwar genau in jenem freundlichen Ton und mit jenem Temperament („mittelmeerisch“ hat Edgar Selge es genannt!), den die Bekannten an ihm beobachtet haben.

Hätte ich diesen „Mittelmeerischen“ also gerne getroffen? Ja, wir hätten es zumindest einmal versuchen können, um zu orten, was wir uns zu erzählen gehabt hätten. Hätten wir? Wären wir? Ach, schon meldet sich, versteckt und heimlich, der Walsersche Duktus des Zweifelns und Fragens und jener kleinen Drehmühlen aus Paradoxien, die er so liebte…

Pierre Laurent Aimard in Salzburg

Leider kann ich in diesem Jahr nicht zu den sommerlichen Festspielen nach Salzburg fahren, um dort (wie in früheren Zeiten) große Pianistinnen oder Pianisten während ihrer Auftritte zu beobachten.

Zum Ersatz verfolge ich aber die Konzertkritiken, die in der überregionalen Presse erscheinen. Sie lassen mich zumindest ansatzweise imaginieren, wie bestimmte Konzerte verlaufen sind. Welche also hätte ich mir unbedingt angeschaut?

Unbedingt: das erste des französischen Pianisten Pierre Laurent Aimard mit Beethovens Bagatellen. Und auch das zweite mit den Études von György Ligeti! (Beide Konzerte übrigens ohne Pause, etwas über eine Stunde lang! So sollte es sein…)

Aimard hat einige dieser Études auch für das Publikum seziert, so etwa die Nr. 13 (L‘ escalier du diable):

Hier das Stück ohne interpretierende Vorstellung:

 

Verbunden mit Salzburg, Aimard und Ligeti wünsche ich Ihnen ein konzentriertes, schönes  Wochenende!